Pathologic
2005 tritt das bis dato unbekannte Moskauer Studio Ice Pick Lodge mit dem Spiel Мор: Утопиа (Mor: Utopia) an die Öffentlichkeit. Der Titel wird in der Heimat mit Preisen überhäuft und zum wichtigsten PC-Spiel der Saison. Publisher ist Buka, das unter dem späteren Namen 1C Company der Publisher von You are empty sein wird. 2006 erfolgt dann unter dem etwas ungelenken Namen Pathologic der internationale Release, den in Deutschland Frogster übernimmt (die Übersetzung des Originaltitels lautet wörtlich „Die Pest: Utopia“). Ein Debakel. Die Kritiken sind verheerend, der Preis des Spiels fällt im Zeitraffer auf Ramschniveau, und es endet bald als Gratis-CD-Beilage zu Videospielmagazinen –die Form, in der man es heute noch auf Amazon für Centbeträge erwerben kann (ich hatte allerdings Glück und konnte noch die originale Retail-Version mit Pappschuber und Handbuch ergattern). Auf dem englischsprachigen Markt ist die Situation interessanterweise etwas anders. Zwar hielt sich auch hier der finanzielle Erfolg in engen Grenzen und die englische
Übersetzung geriet noch um einiges katastrophaler als die deutsche. Aber die Kritiken waren weit weniger vernichtend und bis heute existiert ein treues Netzwerk von Liebhabern des Titels.
Es ist schwer eine lobende Besprechung zu Pathologic zu schreiben, ohne zu spoilern. Denn der Grund dafür, diesem Spiel eine Chance zu geben, ist nicht das Gameplay. Das Gameplay von Pathologic wirkt über lange Strecken einfach wie eine Zumutung und später dann wie ein
notwendiges Übel. Ich bin mir noch beim Schreiben dieser Zeilen nicht sicher, ob ich in über hundert Spielstunden jemals so etwas wie Spielspaß empfunden habe. Genugtuung, ja, das schon. Auch Stolz auf meine Leistung als Spieler. Aber Spaß? Nein, soweit würde ich selbst unter Berücksichtigung all des Masochismus, zu dessen Aufbringung ich fähig bin, nicht gehen, Spielspaß hatte ich in Pathologic keinen. Was ich also in den folgenden zwei Teilen meiner Besprechung versuchen werde, ist, von der Einzigartigkeit der Story dieses Spiels zu erzählen, ohne ihm die Spannung zu rauben, die sich aus ihr – und fast ausschließlich nur aus ihr – ergibt.
Darum sei hier zur Einstimmung nur das Folgende festgehalten: Ich kenne neben Pathologic nur ein einziges Spiel, das von der Tiefe seiner narrativen Struktur her, von der unglaublichen Vielzahl seiner Deutungszugänge her, das mit Bezug auf seine allegorisch hochintelligente Struktur dem Erstling von Ice Pick Lodge das Wasser reichen kann: The
Path von Tale of Tales. Wenn ich all die Jahre seit 1990, die ich meinem Videospielhobby gewidmet habe, Revue passieren lasse, fällt mir höchstens noch Silent Hill 2 ein, das bei mir einen ähnlich starken Eindruck hinterlassen konnte. Wie so viele bin auch ich ein großer Fan der Fähigkeiten von Ken Levine als Geschichtenerzähler. Gegen Pathologic ist das gesamte
erzählerische Universum von Ken Levine banaler Kinderkram. Sorry, Shodan. Sorry,
Garrett. Sorry, Andrew Ryan. Tut mir leid.
1. Außen
Übersetzung geriet noch um einiges katastrophaler als die deutsche. Aber die Kritiken waren weit weniger vernichtend und bis heute existiert ein treues Netzwerk von Liebhabern des Titels.
Es ist schwer eine lobende Besprechung zu Pathologic zu schreiben, ohne zu spoilern. Denn der Grund dafür, diesem Spiel eine Chance zu geben, ist nicht das Gameplay. Das Gameplay von Pathologic wirkt über lange Strecken einfach wie eine Zumutung und später dann wie ein
notwendiges Übel. Ich bin mir noch beim Schreiben dieser Zeilen nicht sicher, ob ich in über hundert Spielstunden jemals so etwas wie Spielspaß empfunden habe. Genugtuung, ja, das schon. Auch Stolz auf meine Leistung als Spieler. Aber Spaß? Nein, soweit würde ich selbst unter Berücksichtigung all des Masochismus, zu dessen Aufbringung ich fähig bin, nicht gehen, Spielspaß hatte ich in Pathologic keinen. Was ich also in den folgenden zwei Teilen meiner Besprechung versuchen werde, ist, von der Einzigartigkeit der Story dieses Spiels zu erzählen, ohne ihm die Spannung zu rauben, die sich aus ihr – und fast ausschließlich nur aus ihr – ergibt.
Darum sei hier zur Einstimmung nur das Folgende festgehalten: Ich kenne neben Pathologic nur ein einziges Spiel, das von der Tiefe seiner narrativen Struktur her, von der unglaublichen Vielzahl seiner Deutungszugänge her, das mit Bezug auf seine allegorisch hochintelligente Struktur dem Erstling von Ice Pick Lodge das Wasser reichen kann: The
Path von Tale of Tales. Wenn ich all die Jahre seit 1990, die ich meinem Videospielhobby gewidmet habe, Revue passieren lasse, fällt mir höchstens noch Silent Hill 2 ein, das bei mir einen ähnlich starken Eindruck hinterlassen konnte. Wie so viele bin auch ich ein großer Fan der Fähigkeiten von Ken Levine als Geschichtenerzähler. Gegen Pathologic ist das gesamte
erzählerische Universum von Ken Levine banaler Kinderkram. Sorry, Shodan. Sorry,
Garrett. Sorry, Andrew Ryan. Tut mir leid.
1. Außen
Mein Atlas. Ich habe die Übersichtskarte Europas aufgeschlagen. Links unten ist Lissabon. Und am anderen Ende liegt einige tausend Kilometer weiter rechts, knapp hinterm Ural und damit schon ein kurzes Stück in Asien Jekatarinburg. Das ist alles Europa. Bildet man zwischen den beiden Städten eine Linie, findet sich beinahe auf halber Strecke Warschau.
Irgendwo auf dieser Höhe ist die Mitte des Kontinents. In unseren östlichen Nachbarstaaten gibt es einen mit viel wunderbarer Ironie ausgetragenen Streit darum, wo diese Mitte denn nun genau sei. Der polnische Filmemacher Stanislaw Mucha hat unter dem Titel Die Mitte
über all diese Mitte-Orte zwischen polnischer Ostseeküste und österreichischem Alpenrand einen urkomischen Dokumentarfilm gemacht, den ich zur Horizonterweiterung wärmstens empfehle.
Als ich vor vier Wochen überlegte, wie man denn so Silvester feiern könnte, da entstand unter anderem auch die Idee, dass man doch einfach mit dem Zug eine Stunde von Berlin nach Osten fahren und in einer polnischen Kleinstadt ungeplant den Jahreswechsel in irgendeiner Kneipe mit den Einheimischen feiern könnte. Keiner meiner Berliner Bekannten ist darauf angesprungen. Und einigen aus Westdeutschland ist wohl zum ersten Mal nach
Jahren an der Spree wirklich bewusst geworden, dass es nach Polen gerade mal achtzig Kilometer sind. Seither gruseln sie sich ein wenig, weil „der Osten“ so nahe ist.
Dabei ist es doch gerade mal die Mitte. Man mache einmal den Versuch und bezeichne einen Polen oder Tschechen als Osteuropäer. Selbst in der Ukraine würde man sich im Kiewer Landesteil damit böse Blicke einhandeln. In Europa ist scheinbar niemand gerne Osten. Vielleicht liegt es daran, dass Europa nur eine Konstruktion ist. Nach Osten geht das Land einfach immer weiter, es hängt mit Asien zusammen und jede Grenze ist eine von Menschen
künstlich bestimmte. Kein Meer, keine Erdplatte trennt uns „vom Osten“. Deswegen erfindet man dann so etwas wie „europäische Kultur“. Und die ist umso „europäischer“, je weiter sie im Westen, fern der diffusen Grenze zum Osten, liegt. Es gibt in Europa eine ziemlich alte und traditionsreiche Arroganz gegenüber dem östlichen Teil des Kontinents. Und anders herum gibt es eine häufig zu beobachtende Sehnsucht „im Osten“, „westlich“ zu sein, also dazu zu gehören. Wenn im Sommer in Polen und der Ukraine EM sein wird, wird man in den
Medien wieder viele Belege für dieses merkwürdige Wechsel-Verhältnis miterleben können. Es genügt aber auch, sich die eine oder andere Spielekritik deutscher Journalisten zu osteuropäischen Videospielen anzuschauen.
Ganz arm dran ist in dieser Hinsicht seit jeher Russland. Denn östlich davon kommt nix mehr, nur noch Asien. Steppe, Sibirien. Endlose Wildnis. Im Westen des Reiches haben die Zaren sich darum St. Petersburg als westliche, europäische Metropole hingestellt, um allen zu zeigen, dass man dazu gehört. Doch das Land ist zu riesenhaft. Schon der europäische Teil bis zum Ural erstreckt sich ewig. Und hinter diesem geht es noch ein ganzes Stück weiter.
Die Provinz ist deswegen in der russischen Literatur eine Art Dauerbrenner. Übrigens ganz ähnlich zur USA. Es gibt zwischen den beiden Riesenländern sowieso einige Gemeinsamkeiten. Die großen Städte sind weit weg – und in den Kleinstädten in der Weite des Landes wohnen merkwürdige Leute, die merkwürdige Dinge tun. Anton Tschechows Kleinstadtdramen, die grotesken Provinzromane von Nikolai Gogol. Oder eben die surrealen Filmgeschichten von David Lynch oder die verrückten Songwelten von Tom Waits. Und dann haben beide Länder ja auch noch eine richtige Wildnis, in der die Geister der alten
Schamanen noch in den Dingen zu stecken scheinen. Sie bilden bei Stephen King den Humus für seine Horrorgeschichten. Und was den USA ihr Letzter Mohikaner – das ist Russland sein Dersu Uzala. Ein Film von Akira Kurosawa aus den 1970ern. Unbedingt mal ansehen!
Irgendwo auf dieser Höhe ist die Mitte des Kontinents. In unseren östlichen Nachbarstaaten gibt es einen mit viel wunderbarer Ironie ausgetragenen Streit darum, wo diese Mitte denn nun genau sei. Der polnische Filmemacher Stanislaw Mucha hat unter dem Titel Die Mitte
über all diese Mitte-Orte zwischen polnischer Ostseeküste und österreichischem Alpenrand einen urkomischen Dokumentarfilm gemacht, den ich zur Horizonterweiterung wärmstens empfehle.
Als ich vor vier Wochen überlegte, wie man denn so Silvester feiern könnte, da entstand unter anderem auch die Idee, dass man doch einfach mit dem Zug eine Stunde von Berlin nach Osten fahren und in einer polnischen Kleinstadt ungeplant den Jahreswechsel in irgendeiner Kneipe mit den Einheimischen feiern könnte. Keiner meiner Berliner Bekannten ist darauf angesprungen. Und einigen aus Westdeutschland ist wohl zum ersten Mal nach
Jahren an der Spree wirklich bewusst geworden, dass es nach Polen gerade mal achtzig Kilometer sind. Seither gruseln sie sich ein wenig, weil „der Osten“ so nahe ist.
Dabei ist es doch gerade mal die Mitte. Man mache einmal den Versuch und bezeichne einen Polen oder Tschechen als Osteuropäer. Selbst in der Ukraine würde man sich im Kiewer Landesteil damit böse Blicke einhandeln. In Europa ist scheinbar niemand gerne Osten. Vielleicht liegt es daran, dass Europa nur eine Konstruktion ist. Nach Osten geht das Land einfach immer weiter, es hängt mit Asien zusammen und jede Grenze ist eine von Menschen
künstlich bestimmte. Kein Meer, keine Erdplatte trennt uns „vom Osten“. Deswegen erfindet man dann so etwas wie „europäische Kultur“. Und die ist umso „europäischer“, je weiter sie im Westen, fern der diffusen Grenze zum Osten, liegt. Es gibt in Europa eine ziemlich alte und traditionsreiche Arroganz gegenüber dem östlichen Teil des Kontinents. Und anders herum gibt es eine häufig zu beobachtende Sehnsucht „im Osten“, „westlich“ zu sein, also dazu zu gehören. Wenn im Sommer in Polen und der Ukraine EM sein wird, wird man in den
Medien wieder viele Belege für dieses merkwürdige Wechsel-Verhältnis miterleben können. Es genügt aber auch, sich die eine oder andere Spielekritik deutscher Journalisten zu osteuropäischen Videospielen anzuschauen.
Ganz arm dran ist in dieser Hinsicht seit jeher Russland. Denn östlich davon kommt nix mehr, nur noch Asien. Steppe, Sibirien. Endlose Wildnis. Im Westen des Reiches haben die Zaren sich darum St. Petersburg als westliche, europäische Metropole hingestellt, um allen zu zeigen, dass man dazu gehört. Doch das Land ist zu riesenhaft. Schon der europäische Teil bis zum Ural erstreckt sich ewig. Und hinter diesem geht es noch ein ganzes Stück weiter.
Die Provinz ist deswegen in der russischen Literatur eine Art Dauerbrenner. Übrigens ganz ähnlich zur USA. Es gibt zwischen den beiden Riesenländern sowieso einige Gemeinsamkeiten. Die großen Städte sind weit weg – und in den Kleinstädten in der Weite des Landes wohnen merkwürdige Leute, die merkwürdige Dinge tun. Anton Tschechows Kleinstadtdramen, die grotesken Provinzromane von Nikolai Gogol. Oder eben die surrealen Filmgeschichten von David Lynch oder die verrückten Songwelten von Tom Waits. Und dann haben beide Länder ja auch noch eine richtige Wildnis, in der die Geister der alten
Schamanen noch in den Dingen zu stecken scheinen. Sie bilden bei Stephen King den Humus für seine Horrorgeschichten. Und was den USA ihr Letzter Mohikaner – das ist Russland sein Dersu Uzala. Ein Film von Akira Kurosawa aus den 1970ern. Unbedingt mal ansehen!
In diese Tradition der russischen Provinz-Erzählung reiht sich Pathologic nahtlos ein. Ein
Fluss. An ihm eine Kleinstadt. Drei Stadtteile. Eine Bahnlinie als Nabelschnur zur Verbindung mit der fernen Zivilisation. Sie endet in der Stadt. Jenseits der Mauern der Stadt erstreckt sich ein baumloses, trockenes Grasland, in dem die Zelte der nomadischen Steppenbewohner stehen, die an ihren Feuern die alten Geister des Landes beschwören, damit sie Heilkräuter aus der Erde wachsen lassen. Diese im Spiel namenlos bleibende Stadt ist ein Vorposten. Sie liegt an der Frontier. Ihre Steinhäuser und Straßen wirken in diesem Grenzland provisorisch und verletzlich. Die Landschaft ist flach, nichts scheint hier Halt geben zu können. Es nimmt kein Wunder, dass sich hier eine Katastrophe vorbereitet – die Stadt scheint bereits mit ihrer schieren Existenz wie dafür angelegt zu sein, solch eine Katastrophe herauf zu beschwören. Sie wirkt an sich bereits wie ein Fremdkörper in dieser Einöde – auch ohne die beiden
merkwürdigen Konstruktionen an ihrem Rand: im Westen ein sich spiralförmig in den Himmel reckendes Bauwerk, das keiner Regel der Statik zu folgen scheint. Und im Osten zwei gleichgroße Erdhügel, die wie Geschwüre wirken, die aus dem Boden wachsen.
Fluss. An ihm eine Kleinstadt. Drei Stadtteile. Eine Bahnlinie als Nabelschnur zur Verbindung mit der fernen Zivilisation. Sie endet in der Stadt. Jenseits der Mauern der Stadt erstreckt sich ein baumloses, trockenes Grasland, in dem die Zelte der nomadischen Steppenbewohner stehen, die an ihren Feuern die alten Geister des Landes beschwören, damit sie Heilkräuter aus der Erde wachsen lassen. Diese im Spiel namenlos bleibende Stadt ist ein Vorposten. Sie liegt an der Frontier. Ihre Steinhäuser und Straßen wirken in diesem Grenzland provisorisch und verletzlich. Die Landschaft ist flach, nichts scheint hier Halt geben zu können. Es nimmt kein Wunder, dass sich hier eine Katastrophe vorbereitet – die Stadt scheint bereits mit ihrer schieren Existenz wie dafür angelegt zu sein, solch eine Katastrophe herauf zu beschwören. Sie wirkt an sich bereits wie ein Fremdkörper in dieser Einöde – auch ohne die beiden
merkwürdigen Konstruktionen an ihrem Rand: im Westen ein sich spiralförmig in den Himmel reckendes Bauwerk, das keiner Regel der Statik zu folgen scheint. Und im Osten zwei gleichgroße Erdhügel, die wie Geschwüre wirken, die aus dem Boden wachsen.
An diesen merkwürdigen Ort gelangen drei Fremde, ganz wie es sich für eine Provinz-geschichte gehört: der Mediziner Dankowski, den Gerüchte von einem wissenschaftlichen Rätsel aus der Hauptstadt in diese Provinz locken. Er wird sich im Lauf der zwölf Tage der Gruppe der Utopisten anschließen, deren Oberhaupt im Westen der Stadt, in der Nähe des mysteriösen Bauwerks lebt. Der Seher Burat wird sich hingegen der Kinder der Stadt, ihrer zukünftigen Elite, annehmen. Und er wird sich seiner Familientradition stellen, die ihn mit den Nomaden draußen in der Steppe, mit der Erde dieser Landschaft und dem Doppelhügel im Osten verbindet. Die Heilerin Klara schließlich wird Schutzpatronin der Gefallenen, Kriminellen und Geächteten der Stadt sein, und mit ihrer Hilfe wird sie die Gegensätze in sich selbst und innerhalb dieses Ortes zu einer Synthese bringen und ein Gleichgewicht zwischen seinen konkurrierenden Interessengruppen erzielen.
Die Stadt in Pathologic wird damit zu einer kleinen Allegorie Europas: im Westen der Intellekt und die Kultur, im Osten die Erde, die Weite und der Mythos. Doch für wen steht Klara? Am Ende dieses Teiles meines Textes zu Pathologic möchte ich hier eine gewagte These anbieten: Klara steht für die große Sehnsucht nach der Rolle, die sich die russische Kultur innerhalb des Kontinents immer wieder erträumt hat – die der Vermittlerin zwischen West und Ost, in der dessen Widersprüche zu einem Ausgleich gelangen können. Eine Geschichte, wie sie nur ein russisches Studio erzählen kann. Wer käme sonst in Europa schon auf die Idee, diese Rolle
ausgerechnet Russland zuzubilligen? Und wer außerhalb Russlands nimmt überhaupt wahr, dass es hier einer Vermittlung bedarf?
Das mag spinnert sein. Sehr wahrscheinlich eine zu verkopfte Interpretation meinerseits. Aber was das Spiel von Ice Pick Lodge zu so etwas besonderem macht, ist die Tatsache, dass sein Stoff eine solche Fehlinterpretation überhaupt hergibt. Wie viele Videospiele gibt es bisher, deren Geschichte sich überhaupt fehlinterpretieren lässt?
Im nächsten Teil möchte ich damit fortfahren. Dann wird es um den Körper gehen. Und um den Krimi, den seine Erkrankung darstellt.
2. Innen
Die Stadt in Pathologic wird damit zu einer kleinen Allegorie Europas: im Westen der Intellekt und die Kultur, im Osten die Erde, die Weite und der Mythos. Doch für wen steht Klara? Am Ende dieses Teiles meines Textes zu Pathologic möchte ich hier eine gewagte These anbieten: Klara steht für die große Sehnsucht nach der Rolle, die sich die russische Kultur innerhalb des Kontinents immer wieder erträumt hat – die der Vermittlerin zwischen West und Ost, in der dessen Widersprüche zu einem Ausgleich gelangen können. Eine Geschichte, wie sie nur ein russisches Studio erzählen kann. Wer käme sonst in Europa schon auf die Idee, diese Rolle
ausgerechnet Russland zuzubilligen? Und wer außerhalb Russlands nimmt überhaupt wahr, dass es hier einer Vermittlung bedarf?
Das mag spinnert sein. Sehr wahrscheinlich eine zu verkopfte Interpretation meinerseits. Aber was das Spiel von Ice Pick Lodge zu so etwas besonderem macht, ist die Tatsache, dass sein Stoff eine solche Fehlinterpretation überhaupt hergibt. Wie viele Videospiele gibt es bisher, deren Geschichte sich überhaupt fehlinterpretieren lässt?
Im nächsten Teil möchte ich damit fortfahren. Dann wird es um den Körper gehen. Und um den Krimi, den seine Erkrankung darstellt.
2. Innen
Für diese zweite interpretative Einkreisung des Pathologic-Settings wird kein vergleichbar großes Ausholen wie im Teil zuvor nötig sein. Denn dass Ice Pick Lodge eine Obsession für den menschlichen Körper, vor allem in Stadien seiner Bedrohung pflegt, wurde spätestens mit The Void augenfällig, dem Nachfolger zu Pathologic.
Pathologic ist ein Spiel über die Krankheit. Es ist in bestimmten Aspekten auch als Spiel
selbst eine Krankheit – aber dazu später mehr. Eine Stadt am Rande der Zivilisation, in der eine tödliche Epidemie zum Ausbruch kommt. Alles beginnt am ersten Tag noch als ein geraunentes Gerücht. Am dritten Tag muss das erste Viertel gesperrt werden. Wenig später bricht das Chaos aus. In Lumpen gehüllte Infizierte wanken stöhnend über die Strassen. Verdächtige Wolken wabern durch die Gassen. Hauswände scheinen zu bluten. Alles ist in gelblichen Dunst gehüllt. Aggressive Ratten huschen herum. Die Lebensmittel werden knapp, in den Geschäften steigen die Preise für Essen und Medikamente ins Astronomische.
Gerüchte über Übertragungsmöglichkeiten und Träger der Seuche machen die Runde. In den Straßen tauchen mysteriöse, vermummte Gestalten auf, die große Vogelmasken vor ihren Gesichtern tragen und einer geheimen Agenda folgen, in die niemand Einblick nehmen kann. Die Leute handeln zunehmend irrational. Menschen werden als Seuchenträger von einem Lynchmob verbrannt, ein Stier wird in Erinnerung an alte heidnische Rituale geopfert. Man munkelt von den bösen Geistern der Steppe, die nachts in die Stadt kommen und die Krankheit mit sich in die noch nicht infizierten Viertel bringen. Die Gesunden verschanzen sich in den Häusern und zwielichtiges Volk kommt auch am hellerlichten Tag aus seinen Löchern. Den städtischen Autoritäten entgleitet die Kontrolle. In den Häusern der
Gestorbenen sind Plünderer unterwegs. Es gibt willkürliche Verhaftungen. Am siebten Tag kommt eine Inquisitorin der Regierung in die Stadt, die ein paar Leute aufknüpfen lässt, ansonsten aber ohnmächtig dem Irrsinn zusehen muss. Oder ist sie selbst Teil dieses Irrsinns? Am neunten Tag schließlich erreicht die Armee den Ort, eine riesige Kanone im Schlepptau. Sind sie gekommen, um zu helfen? Oder ist ihr Auftrag die Zerstörung der Stadt? Kommt hier irgendwer noch lebend heraus?
Diese Frage stellt sich nicht zuletzt auch unseren drei Helden, die aus sehr unterschiedlichen Gründen an diesen Ort gekommen sind und nun hier festsitzen. Sie werden einen Weg finden müssen, sich selbst über die zwölf Tage des Spiels hinweg am Leben zu erhalten: sich Nahrung zu besorgen, an die seltene Munition für Waffen zu gelangen, einen sicheren Platz zum Schlafen zu finden, sich vor der Infektion zu schützen (was tatsächlich für jeden der
drei möglich ist) – oder, sollte ihnen das nicht gelungen sein, den Erreger mit Medikamenten möglichst im Anfangsstadium zu halten. Und als ob all das nicht schon schwer genug wäre, müssen sie ihren Weg im Umgang mit den sich hinter den Kulissen trotz der Seuche noch immer bekämpfenden drei Machtzirkeln der Stadt finden. Jeder der drei wird sich dabei für eine andere Seite entscheiden – mit anderen Konsequenzen für sein Überleben in der Stadt. Sie werden gejagt werden, in Ungnade fallen oder ihre Rehabilitation erfahren. Und jeder von ihnen wird im Laufe der zwölf Tage realisieren, dass er bei der eventuellen Rettung der
Stadt eine bestimmte Rolle spielen kann, wenn er über die Zeit des Spiels hinweg seine Karten richtig ausspielt. Der Mediziner wird hierbei den rationalen Weg der Wissenschaft wählen, um später erkennen zu müssen, dass nicht jede Krankheit mit Mitteln der Wissenschaft zu bändigen ist. Der Seher wird lernen, das uralte Wissen der Steppe zu nutzen und ein Heilmittel finden, für das es einen Preis zu zahlen gilt. Und die Heilerin wird am Ende ein Wunder vollbringen. Doch zuvor muss sie sich ihren inneren Dämonen stellen.
Pathologic ist ein Spiel über die Krankheit. Es ist in bestimmten Aspekten auch als Spiel
selbst eine Krankheit – aber dazu später mehr. Eine Stadt am Rande der Zivilisation, in der eine tödliche Epidemie zum Ausbruch kommt. Alles beginnt am ersten Tag noch als ein geraunentes Gerücht. Am dritten Tag muss das erste Viertel gesperrt werden. Wenig später bricht das Chaos aus. In Lumpen gehüllte Infizierte wanken stöhnend über die Strassen. Verdächtige Wolken wabern durch die Gassen. Hauswände scheinen zu bluten. Alles ist in gelblichen Dunst gehüllt. Aggressive Ratten huschen herum. Die Lebensmittel werden knapp, in den Geschäften steigen die Preise für Essen und Medikamente ins Astronomische.
Gerüchte über Übertragungsmöglichkeiten und Träger der Seuche machen die Runde. In den Straßen tauchen mysteriöse, vermummte Gestalten auf, die große Vogelmasken vor ihren Gesichtern tragen und einer geheimen Agenda folgen, in die niemand Einblick nehmen kann. Die Leute handeln zunehmend irrational. Menschen werden als Seuchenträger von einem Lynchmob verbrannt, ein Stier wird in Erinnerung an alte heidnische Rituale geopfert. Man munkelt von den bösen Geistern der Steppe, die nachts in die Stadt kommen und die Krankheit mit sich in die noch nicht infizierten Viertel bringen. Die Gesunden verschanzen sich in den Häusern und zwielichtiges Volk kommt auch am hellerlichten Tag aus seinen Löchern. Den städtischen Autoritäten entgleitet die Kontrolle. In den Häusern der
Gestorbenen sind Plünderer unterwegs. Es gibt willkürliche Verhaftungen. Am siebten Tag kommt eine Inquisitorin der Regierung in die Stadt, die ein paar Leute aufknüpfen lässt, ansonsten aber ohnmächtig dem Irrsinn zusehen muss. Oder ist sie selbst Teil dieses Irrsinns? Am neunten Tag schließlich erreicht die Armee den Ort, eine riesige Kanone im Schlepptau. Sind sie gekommen, um zu helfen? Oder ist ihr Auftrag die Zerstörung der Stadt? Kommt hier irgendwer noch lebend heraus?
Diese Frage stellt sich nicht zuletzt auch unseren drei Helden, die aus sehr unterschiedlichen Gründen an diesen Ort gekommen sind und nun hier festsitzen. Sie werden einen Weg finden müssen, sich selbst über die zwölf Tage des Spiels hinweg am Leben zu erhalten: sich Nahrung zu besorgen, an die seltene Munition für Waffen zu gelangen, einen sicheren Platz zum Schlafen zu finden, sich vor der Infektion zu schützen (was tatsächlich für jeden der
drei möglich ist) – oder, sollte ihnen das nicht gelungen sein, den Erreger mit Medikamenten möglichst im Anfangsstadium zu halten. Und als ob all das nicht schon schwer genug wäre, müssen sie ihren Weg im Umgang mit den sich hinter den Kulissen trotz der Seuche noch immer bekämpfenden drei Machtzirkeln der Stadt finden. Jeder der drei wird sich dabei für eine andere Seite entscheiden – mit anderen Konsequenzen für sein Überleben in der Stadt. Sie werden gejagt werden, in Ungnade fallen oder ihre Rehabilitation erfahren. Und jeder von ihnen wird im Laufe der zwölf Tage realisieren, dass er bei der eventuellen Rettung der
Stadt eine bestimmte Rolle spielen kann, wenn er über die Zeit des Spiels hinweg seine Karten richtig ausspielt. Der Mediziner wird hierbei den rationalen Weg der Wissenschaft wählen, um später erkennen zu müssen, dass nicht jede Krankheit mit Mitteln der Wissenschaft zu bändigen ist. Der Seher wird lernen, das uralte Wissen der Steppe zu nutzen und ein Heilmittel finden, für das es einen Preis zu zahlen gilt. Und die Heilerin wird am Ende ein Wunder vollbringen. Doch zuvor muss sie sich ihren inneren Dämonen stellen.
Das ist die offensichtliche, klar erkennbare Ebene des Themas „Krankheit und Heilung“, das den Handlungskern des Spiels kennzeichnet. Bereits mit den drei Helden gewinnt dieses Grundthema aber eine weitere Interpretationsebene hinzu, denn sie stehen paradigmatisch für unterschiedliche Strömungen in der Geschichte der Medizin und für verschiedene philosophische Ansätze bei der Frage danach, wodurch sich Krankheit und Gesundheit definieren und mit welchem Ansatz „Heilung“ praktiziert werden sollte. Damit sind wir aber
noch längst nicht am Ende der Fahnenstange angelangt.
Denn wie schon im zweiten Teil, so lässt sich auch diesmal wieder die Stadt an sich als eine Allegorie betrachten. Und zwar als eine Allegorie für den menschlichen Körper. Im Westen liegt mit der Kirche und dem mysteriösen Polyeder der Kopf, das Gehirn, das einerseits ein physisches Organ ist, andererseits Ort unserer Empfindungen, Ideen, Gedanken, Erinnerungen und persönlichen Eigenschaften. Im Osten unter den beiden Hügeln werden wir mit dem Seher die Eingeweide des Landes entdecken und damit den Urgrund, auf dem
sich der Körper aufbaut. Zwischen diesen beiden Polen spannen sich die drei Stadtteile auf, die die Knochen und inneren Organe repräsentieren. Man kann diese Allegorie nun weiterspinnen. Die Stadt ist bevölkert von Menschen, die uns im Spiel als immer gleiche Model-Klassen von Klonen begegnen. In zahllosen Besprechungen wurde das den Entwicklern als Schlampigkeit und Faulheit ausgelegt. Ich bin mir da zumindest unsicher. Denn nimmt man die Körper-Allegorie ernst, gleichen sie damit den Botenstoffen des Körpers, den
Antikörpern usw., die ebenfalls sich wiederholende Klassen und Gruppen bilden. Unsere drei Helden sind in diesem Denkgebäude dann drei verschiedene Therapieansätze, drei verschiedene Medikamentierungen. Sie werden in die Blutbahnen des infizierten Patienten geschleust – in die Straßen der Stadt – um hier einen Weg zu finden, die Krankheit zu bekämpfen. Aus diesem Blickwinkel erscheint auch das stereotyp nach dem immer gleichen Muster ablaufende Grundgerüst der jeweiligen Tage plausibel. Auch ein kranker Körper funktioniert noch nach Gesetzen. Und selbst Inquisitorin und Armee passen in dieses Bild –
als harte äußere Eingriffe, wenn diese Gesetze endgültig zu versagen drohen. Die
Inquisitorin versinnbildlicht eine schwere Operation zur Rettung des Organismus. Und die Armee die Endkonsequenz seiner Zerstörung, um als ultima Ratio ein Überspringen auf andere Körper zu vermeiden.
noch längst nicht am Ende der Fahnenstange angelangt.
Denn wie schon im zweiten Teil, so lässt sich auch diesmal wieder die Stadt an sich als eine Allegorie betrachten. Und zwar als eine Allegorie für den menschlichen Körper. Im Westen liegt mit der Kirche und dem mysteriösen Polyeder der Kopf, das Gehirn, das einerseits ein physisches Organ ist, andererseits Ort unserer Empfindungen, Ideen, Gedanken, Erinnerungen und persönlichen Eigenschaften. Im Osten unter den beiden Hügeln werden wir mit dem Seher die Eingeweide des Landes entdecken und damit den Urgrund, auf dem
sich der Körper aufbaut. Zwischen diesen beiden Polen spannen sich die drei Stadtteile auf, die die Knochen und inneren Organe repräsentieren. Man kann diese Allegorie nun weiterspinnen. Die Stadt ist bevölkert von Menschen, die uns im Spiel als immer gleiche Model-Klassen von Klonen begegnen. In zahllosen Besprechungen wurde das den Entwicklern als Schlampigkeit und Faulheit ausgelegt. Ich bin mir da zumindest unsicher. Denn nimmt man die Körper-Allegorie ernst, gleichen sie damit den Botenstoffen des Körpers, den
Antikörpern usw., die ebenfalls sich wiederholende Klassen und Gruppen bilden. Unsere drei Helden sind in diesem Denkgebäude dann drei verschiedene Therapieansätze, drei verschiedene Medikamentierungen. Sie werden in die Blutbahnen des infizierten Patienten geschleust – in die Straßen der Stadt – um hier einen Weg zu finden, die Krankheit zu bekämpfen. Aus diesem Blickwinkel erscheint auch das stereotyp nach dem immer gleichen Muster ablaufende Grundgerüst der jeweiligen Tage plausibel. Auch ein kranker Körper funktioniert noch nach Gesetzen. Und selbst Inquisitorin und Armee passen in dieses Bild –
als harte äußere Eingriffe, wenn diese Gesetze endgültig zu versagen drohen. Die
Inquisitorin versinnbildlicht eine schwere Operation zur Rettung des Organismus. Und die Armee die Endkonsequenz seiner Zerstörung, um als ultima Ratio ein Überspringen auf andere Körper zu vermeiden.
Ich beende an dieser Stelle diese zweite Sezierung von Pathologic. Es wären weitere möglich.
Das Spiel ließe sich zum Beispiel unschwer als Bild für die soziale, identitäre und gesellschaftsphilosophische Schockstarre in der Post-Sowjetunion deuten, aus der das Land seit 1990 noch immer nicht so recht herausgefunden hat. Und dann gibt es ja noch den ganzen (video)spielphilosophischen Überbau, auf den ich hier bisher mit keinem Wort eingegangen bin. Pathologic bietet in diesem Feld einige faustdicke Überraschungen und philosophische Twists, die für mich zum Besten gehören, dass mir in PC-Spielen an
Selbstreferenzialität überhaupt untergekommen ist.
Als Fazit dieser beiden Teile bleibt damit stehen: Pathologic ist ein allegorisches
Konzept-Spiel. Und es ist in diesem Bereich so stark, dass es gleich mehrere allegorische Konzepte in sich vereint. Hier gibt es intellektuell so viel Futter zu kauen, dass man noch nach Wochen davon satt ist. Was bleibt ist die große Frage: lässt sich dieser – mit Verlaub – Gehirnfick trotzdem mit Gewinn spielen? Oder hätten die Leute von Ice Pick Lodge lieber ein Buch schreiben oder einen surrealen Animationsfilm drehen sollen? Macht Pathologic also Spaß? Ein weites Feld, das ich im dritten und letzten Teil beackern werde.
Das Spiel ließe sich zum Beispiel unschwer als Bild für die soziale, identitäre und gesellschaftsphilosophische Schockstarre in der Post-Sowjetunion deuten, aus der das Land seit 1990 noch immer nicht so recht herausgefunden hat. Und dann gibt es ja noch den ganzen (video)spielphilosophischen Überbau, auf den ich hier bisher mit keinem Wort eingegangen bin. Pathologic bietet in diesem Feld einige faustdicke Überraschungen und philosophische Twists, die für mich zum Besten gehören, dass mir in PC-Spielen an
Selbstreferenzialität überhaupt untergekommen ist.
Als Fazit dieser beiden Teile bleibt damit stehen: Pathologic ist ein allegorisches
Konzept-Spiel. Und es ist in diesem Bereich so stark, dass es gleich mehrere allegorische Konzepte in sich vereint. Hier gibt es intellektuell so viel Futter zu kauen, dass man noch nach Wochen davon satt ist. Was bleibt ist die große Frage: lässt sich dieser – mit Verlaub – Gehirnfick trotzdem mit Gewinn spielen? Oder hätten die Leute von Ice Pick Lodge lieber ein Buch schreiben oder einen surrealen Animationsfilm drehen sollen? Macht Pathologic also Spaß? Ein weites Feld, das ich im dritten und letzten Teil beackern werde.
3. Jenseits der Interpretation: Pathologic – Spielbarer Simulator oder simuliertes Spiel?
In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat – da lagen Spielen noch ausgedruckte Handbücher bei. So auch im Fall von Pathologic. In diesem schreiben die Macher von Ice Pick Lodge auf Seite 2:
„Die Bevölkerungszahl auf unserem Planeten überschreitet bald die 6-Milliarden-Grenze. Ein Resultat dieser Tatsache ist eine enorme Bevölkerungsdichte und eine sich daraus ergebende Verknappung der natürlichen Ressourcen. An einem derart kritischen Punkt setzen natürliche Mechanismen zur Begrenzung der Bevölkerung ein. Naturkatastrophen und Ausbrüche von neuen, bislang unbekannten Krankheiten sind nur zwei Beispiele hierfür. Hiervon ausgehend halten wir es für notwendig, die Erfahrung der Menschen im Umgang mit kritischen Situationen zu schulen. Aus diesem Grund präsentieren wie Ihnen nun einen Simulator für menschliches Verhalten unter dem Einfluss einer Pandemie. „Pathologic“ ist der erste Spielprototyp für diesen Simulator. Die Simulatorumgebung setzt einen mangelhaft ausgeprägten wissenschaftlichen Fortschritt und eine höchst primitive Bevölkerungsentwicklung voraus. Aus diesem Grund sind die Möglichkeiten, die Krankheit zu bekämpfen eingeschränkt. Das Herz des Simulators ist ein Mechanismus, der auf das Treffen
richtiger Entscheidungen reagiert.“
Im Folgenden möchte ich nun auf die Qualitäten von Pathologic als Spiel eingehen. Und weil
es hier auch unschöne Dinge zu sagen geben wird – fange ich mit den schönen Dingen an.
„Die Bevölkerungszahl auf unserem Planeten überschreitet bald die 6-Milliarden-Grenze. Ein Resultat dieser Tatsache ist eine enorme Bevölkerungsdichte und eine sich daraus ergebende Verknappung der natürlichen Ressourcen. An einem derart kritischen Punkt setzen natürliche Mechanismen zur Begrenzung der Bevölkerung ein. Naturkatastrophen und Ausbrüche von neuen, bislang unbekannten Krankheiten sind nur zwei Beispiele hierfür. Hiervon ausgehend halten wir es für notwendig, die Erfahrung der Menschen im Umgang mit kritischen Situationen zu schulen. Aus diesem Grund präsentieren wie Ihnen nun einen Simulator für menschliches Verhalten unter dem Einfluss einer Pandemie. „Pathologic“ ist der erste Spielprototyp für diesen Simulator. Die Simulatorumgebung setzt einen mangelhaft ausgeprägten wissenschaftlichen Fortschritt und eine höchst primitive Bevölkerungsentwicklung voraus. Aus diesem Grund sind die Möglichkeiten, die Krankheit zu bekämpfen eingeschränkt. Das Herz des Simulators ist ein Mechanismus, der auf das Treffen
richtiger Entscheidungen reagiert.“
Im Folgenden möchte ich nun auf die Qualitäten von Pathologic als Spiel eingehen. Und weil
es hier auch unschöne Dinge zu sagen geben wird – fange ich mit den schönen Dingen an.
Da ist zunächst die allgemeine Atmosphäre des Spiels. Hierzu liest man in den Besprechungen einiges an Kritik: keine Imersion, grafisch veraltet und altbacken, langweilig. Vor allem die Stadt als Ort der Handlung wird kritisiert: wegen der sich wiederholenden Bauwerke, wegen der die Straßen bevölkernden Klone. Usw. Für mich geht diese Kritik ins Leere – denn ich habe in den letzten zwei Teilen versucht, aufzuzeigen, dass Ice Pick Lodge hier gar keine wirkliche Stadt kreieren wollten, weswegen es Unsinn ist, ihnen vorzuwerfen, dass sie dabei gescheitert wären. Das hier ist keine GTA-Stadt, die in ihrer Struktur möglichst eng an ihren US-amerikanischen Vorbildern in der wirklichen Welt orientiert ist. Wir sind hier auch nicht in Lost Heaven aus Mafia. Und auch nicht im Vizima des Witchers. Die Stadt in Pathologic ist ein allegorisches Konstrukt. Sie ist eine Spielanordnung. Eine Theaterkulisse, die bestimmte Funktionen zu erfüllen hat. Der Versuchsaufbau eines Simulators, wie es das Zitat oben verdeutlicht. Sie ist viel mehr mit dem Monopoly-Stadtplan verwandt, als mit den üblichen 3D-Stadtszenarien der Videospielwelt. Der Spieler soll hier nicht vergessen, dass er ein Spiel spielt. Er soll sich hier nicht verlieren. Vielmehr ist es seine Aufgabe, die Gesetzmäßigkeiten dieses Spiels zu durchschauen, um es gewinnen zu können. Ganz ähnlich, wie es auf der fiktionalen Ebene seinem von ihm gespielten Helden gelingen muss. Hat man diese Prämisse verstanden, erfüllt die Atmosphäre des Spiels ganz großartig ihre Funktion. Denn sie unterstreicht das alles umgebende Rätsel. Was ist das hier überhaupt für ein Ort? Was ist sein Geheimnis? Wieso wirkt diese Welt so unwirklich? Folgt all dies hier einer Logik? Befinde ich mich in einem surrealen Albtraum? Und wenn ja: wessen Traum ist es dann und gibt es ein Entkommen? Das Art-Design des Spiels hilft bei der Umsetzung dieses Gefühls der
Unwirklichkeit und der diffusen Bedrohung sehr gut. Einerseits ist es offensichtlich in vielen Elementen beeinflusst von der Zeit um das Jahr 1900. Kleidungsstile, Waffen- und Objektdesign, Einrichtung und Architektur der Häuser, technischer Entwicklungsstand der Welt. Andererseits wird dieser historische Stil in einzelnen Details immer wieder ins Fantastische und Irreale verfremdet. Hinzu kommen einige sehr wirkungsvolle Renderfilme an bestimmten Punkten der Handlung und der gute Soundtrack. Einzig die Soundvielfalt auf den
Strassen der Stadt selbst hätte ruhig etwas üppiger ausfallen können. Dafür sind aber die Interieurs der Häuser von handlungsrelevanten NPC´s sehr gut gelungen und die Karte der Stadt entfaltet einen hohen grafischen Reiz – was gut ist, denn man wird viel auf sie zurückgreifen. Auch zur technischen Seite lässt sich eigentlich nicht viel Kritisches sagen. Zwar entspricht der allgemeine technische Stand des Spiels sicher nicht dem des Jahres 2005, sondern erinnert eher an den eines Morrowind. Dafür läuft die Engine aber tadellos. Ich hatte in über einhundert Spielstunden nicht einen einzigen Absturz oder Freeze zu verzeichnen. Kein Safestand ging hops. Außerdem ist das Spiel technisch vollkommen Bug-frei – abgesehen höchstens von der KI, die in einigen sehr seltenen Fällen in einem Türrahmen hängen blieb. Dem einen oder anderen mag eventuell die Sichtweite in der Stadt ein paar Meter zu kurz sein. Ist Geschmackssache. Ich hatte mich nach einem Tag im Spiel
bereits daran gewöhnt. Übrigens genauso wie an die diese Welt beherrschenden Braun-,
Gelb- und Sepiatöne. Wir sind draußen in der Steppe. Die langen Sommer über dem ebenen Grasland haben die Farben aus dieser Welt herausgebleicht. Wer einmal in den Talschaften im Inneren des Balkans unterwegs war, in der Puszta Ungarns oder im Karpatenbogen von Siebenbürgen, der wird verstehen, was ich meine.
Unwirklichkeit und der diffusen Bedrohung sehr gut. Einerseits ist es offensichtlich in vielen Elementen beeinflusst von der Zeit um das Jahr 1900. Kleidungsstile, Waffen- und Objektdesign, Einrichtung und Architektur der Häuser, technischer Entwicklungsstand der Welt. Andererseits wird dieser historische Stil in einzelnen Details immer wieder ins Fantastische und Irreale verfremdet. Hinzu kommen einige sehr wirkungsvolle Renderfilme an bestimmten Punkten der Handlung und der gute Soundtrack. Einzig die Soundvielfalt auf den
Strassen der Stadt selbst hätte ruhig etwas üppiger ausfallen können. Dafür sind aber die Interieurs der Häuser von handlungsrelevanten NPC´s sehr gut gelungen und die Karte der Stadt entfaltet einen hohen grafischen Reiz – was gut ist, denn man wird viel auf sie zurückgreifen. Auch zur technischen Seite lässt sich eigentlich nicht viel Kritisches sagen. Zwar entspricht der allgemeine technische Stand des Spiels sicher nicht dem des Jahres 2005, sondern erinnert eher an den eines Morrowind. Dafür läuft die Engine aber tadellos. Ich hatte in über einhundert Spielstunden nicht einen einzigen Absturz oder Freeze zu verzeichnen. Kein Safestand ging hops. Außerdem ist das Spiel technisch vollkommen Bug-frei – abgesehen höchstens von der KI, die in einigen sehr seltenen Fällen in einem Türrahmen hängen blieb. Dem einen oder anderen mag eventuell die Sichtweite in der Stadt ein paar Meter zu kurz sein. Ist Geschmackssache. Ich hatte mich nach einem Tag im Spiel
bereits daran gewöhnt. Übrigens genauso wie an die diese Welt beherrschenden Braun-,
Gelb- und Sepiatöne. Wir sind draußen in der Steppe. Die langen Sommer über dem ebenen Grasland haben die Farben aus dieser Welt herausgebleicht. Wer einmal in den Talschaften im Inneren des Balkans unterwegs war, in der Puszta Ungarns oder im Karpatenbogen von Siebenbürgen, der wird verstehen, was ich meine.
Ein zweiter großer Pluspunkt ist das hohe Niveau der erzählten Geschichte, das sich auch auf das Erlebnis des Spiels an sich auswirkt. Was Ice Pick Lodge hier für ein Geflecht aus Handlungsfäden gesponnen hat, ist im Videospielbereich ziemlich einzigartig. In Pathologic
begegnet man insgesamt 27 über die Stadt verteilten NPC´s, über die die Story vorangetrieben wird. Jeder von ihnen hat seine eigenen Motive, die sich erst allmählich entschleiern. Dabei kann Freund zu Feind werden und umgekehrt. Hinzu kommen außerdem noch die zwei anderen Helden, die im jeweils gewählten Szenario ebenfalls eingreifen und zu denen sich das Verhältnis der Spielfigur im Lauf der zwölf Tage transformieren wird. Was die Sache nun zu so etwas Besonderem macht, ist die Tatsache, dass sich jedem der drei die Stadt, die sie plagende Krankheit und die Konflikte ihrer Bewohner anders darstellen. Das zieht sich bis in grundlegende Fragen der Philosophie dieser Welt. Für jeden der drei wird die Stadt daher etwas anders sein, er wird einen anderen Zugriff auf sie gewinnen, die Konstellation der 27 NPC´s wird für jeden von ihnen eine ganz eigene sein und andere Facetten ihrer Persönlichkeit werden sich ihm erschließen. Jeder der drei wird deswegen auch einen anderen Ausschnitt der Wahrheit und der Lösung des Rätsels erfahren – ja, womöglich ist das Rätsel und die ihm zugrunde liegende Wahrheit sogar für jeden von ihnen eine andere. Der Durchlauf eines Szenarios mit einer der drei wählbaren Figuren dauert, wenn man sich erst einmal eingefuchst hat, etwa 30 Stunden. Macht unter dem Strich ungefähr hundert Stunden reine Spielzeit. Das ist bei normalem Konsum im Grunde eine ganze Jahreszeit. Und sollte man dem eigentümlichen Zauber dieses verqueren Spiels erliegen – dann wird man diese Zeit opfern. Man will jeden Zipfel dieser Geschichte und jeden Teil des Puzzles erleben. Aus jedem sich bietenden Blickwinkel.
In Ansätzen wirkt diese Faszination auch in die Spielweise der drei Spielfiguren hinein, denn Ice Pick Lodge hat sich hier einige interessante Variationen überlegt. Und sie ziehen bei jedem der drei ein bisschen mehr die Daumenschrauben an. Denn neben dem Vorantreiben der Story über die Erledigung von Tagesquests, bei der einem die erbarmungslos heruntertickende Uhr im Nacken sitzt – zwei Stunden realer Zeit entsprechen ungefähr einem Tag im Spiel – muss man, wie bereits erwähnt, die Gesundheitswerte seiner Spielfigur im Auge behalten. Fünf Statistiken gilt es permanent zu managen: Hunger, Erschöpfung,
Gesundheit, Infektionsgrad, Ruf. Sie stehen untereinander in Wechselwirkung und nicht jede Maßnahme, die dem einen Wert zugute kommt, ist für den anderen zuträglich. Das ist fordernd – vor allem in den ersten Stunden im Spiel, in denen sich noch keine Routine eingestellt hat. Daher haben die Entwickler für den Einstieg das Szenario des Mediziners Dankowski bestimmt, denn er muss sich, so man sich in der Spielwelt nicht wie ein Elefant im Porzellanladen benimmt, mit seinem Ruf nicht befassen. Das gibt einem die Zeit, die man brauchen wird, um den Aufbau der Stadt zu verinnerlichen, um zu lernen, dass man von einem Ende zum anderen ca. eine Stunde des Spieltages benötigt, wo die Läden der Händler sind, welche Straßenkinder was mit einem eintauschen, wie die kürzesten Routen zwischen den Häusern der NPC´s verlaufen, auf welche Weise man den Ratten, Straßenschlägern und Seuchewolken ausweicht und und und. Das ist alles ziemlich komplex und man benötigt mehr als die Hälfte des Medizinerszenarios, um alles zu verinnerlichen. Als Seher Burat darf man sich dann mit seinem zunächst miesen Ruf herumschlagen, da einen alle für einen Mörder halten – was dazu führt, dass einen jeder Wachmann sofort verfolgt und keiner der Händler
einem etwas verkauft. Hat man das Problem nicht bis zum Ende von Tag 1 gelöst, verhungert man und die Sache ist vorbei. Und erbarmungslos verrinnen die Minuten. Tick, tick, tick. Klara, die Heilerin muss sich ihren Ruf sogar jeden Tag wieder aufs Neue aufbessern, da er in ihrem Szenario permanent und von Minute zu Minute sinkt – aus Gründen, die hier nicht verraten werden sollen. Als Ausgleich haben die beiden letzteren Charaktere ein paar besondere Fähigkeiten spendiert bekommen, die dem Spiel noch einmal in Bezug auf seine
Mechaniken eine jeweils besondere Note geben. Das Szenario des Sehers ist dabei übrigens für mich persönlich von den drei Auswahlmöglichkeiten die stimmigste Erfahrung gewesen.
begegnet man insgesamt 27 über die Stadt verteilten NPC´s, über die die Story vorangetrieben wird. Jeder von ihnen hat seine eigenen Motive, die sich erst allmählich entschleiern. Dabei kann Freund zu Feind werden und umgekehrt. Hinzu kommen außerdem noch die zwei anderen Helden, die im jeweils gewählten Szenario ebenfalls eingreifen und zu denen sich das Verhältnis der Spielfigur im Lauf der zwölf Tage transformieren wird. Was die Sache nun zu so etwas Besonderem macht, ist die Tatsache, dass sich jedem der drei die Stadt, die sie plagende Krankheit und die Konflikte ihrer Bewohner anders darstellen. Das zieht sich bis in grundlegende Fragen der Philosophie dieser Welt. Für jeden der drei wird die Stadt daher etwas anders sein, er wird einen anderen Zugriff auf sie gewinnen, die Konstellation der 27 NPC´s wird für jeden von ihnen eine ganz eigene sein und andere Facetten ihrer Persönlichkeit werden sich ihm erschließen. Jeder der drei wird deswegen auch einen anderen Ausschnitt der Wahrheit und der Lösung des Rätsels erfahren – ja, womöglich ist das Rätsel und die ihm zugrunde liegende Wahrheit sogar für jeden von ihnen eine andere. Der Durchlauf eines Szenarios mit einer der drei wählbaren Figuren dauert, wenn man sich erst einmal eingefuchst hat, etwa 30 Stunden. Macht unter dem Strich ungefähr hundert Stunden reine Spielzeit. Das ist bei normalem Konsum im Grunde eine ganze Jahreszeit. Und sollte man dem eigentümlichen Zauber dieses verqueren Spiels erliegen – dann wird man diese Zeit opfern. Man will jeden Zipfel dieser Geschichte und jeden Teil des Puzzles erleben. Aus jedem sich bietenden Blickwinkel.
In Ansätzen wirkt diese Faszination auch in die Spielweise der drei Spielfiguren hinein, denn Ice Pick Lodge hat sich hier einige interessante Variationen überlegt. Und sie ziehen bei jedem der drei ein bisschen mehr die Daumenschrauben an. Denn neben dem Vorantreiben der Story über die Erledigung von Tagesquests, bei der einem die erbarmungslos heruntertickende Uhr im Nacken sitzt – zwei Stunden realer Zeit entsprechen ungefähr einem Tag im Spiel – muss man, wie bereits erwähnt, die Gesundheitswerte seiner Spielfigur im Auge behalten. Fünf Statistiken gilt es permanent zu managen: Hunger, Erschöpfung,
Gesundheit, Infektionsgrad, Ruf. Sie stehen untereinander in Wechselwirkung und nicht jede Maßnahme, die dem einen Wert zugute kommt, ist für den anderen zuträglich. Das ist fordernd – vor allem in den ersten Stunden im Spiel, in denen sich noch keine Routine eingestellt hat. Daher haben die Entwickler für den Einstieg das Szenario des Mediziners Dankowski bestimmt, denn er muss sich, so man sich in der Spielwelt nicht wie ein Elefant im Porzellanladen benimmt, mit seinem Ruf nicht befassen. Das gibt einem die Zeit, die man brauchen wird, um den Aufbau der Stadt zu verinnerlichen, um zu lernen, dass man von einem Ende zum anderen ca. eine Stunde des Spieltages benötigt, wo die Läden der Händler sind, welche Straßenkinder was mit einem eintauschen, wie die kürzesten Routen zwischen den Häusern der NPC´s verlaufen, auf welche Weise man den Ratten, Straßenschlägern und Seuchewolken ausweicht und und und. Das ist alles ziemlich komplex und man benötigt mehr als die Hälfte des Medizinerszenarios, um alles zu verinnerlichen. Als Seher Burat darf man sich dann mit seinem zunächst miesen Ruf herumschlagen, da einen alle für einen Mörder halten – was dazu führt, dass einen jeder Wachmann sofort verfolgt und keiner der Händler
einem etwas verkauft. Hat man das Problem nicht bis zum Ende von Tag 1 gelöst, verhungert man und die Sache ist vorbei. Und erbarmungslos verrinnen die Minuten. Tick, tick, tick. Klara, die Heilerin muss sich ihren Ruf sogar jeden Tag wieder aufs Neue aufbessern, da er in ihrem Szenario permanent und von Minute zu Minute sinkt – aus Gründen, die hier nicht verraten werden sollen. Als Ausgleich haben die beiden letzteren Charaktere ein paar besondere Fähigkeiten spendiert bekommen, die dem Spiel noch einmal in Bezug auf seine
Mechaniken eine jeweils besondere Note geben. Das Szenario des Sehers ist dabei übrigens für mich persönlich von den drei Auswahlmöglichkeiten die stimmigste Erfahrung gewesen.
Klingt alles eigentlich gar nicht schlecht, oder? Fordernder Schwierigkeitsgrad, anspruchsvolle Geschichte mit extrem viel Tiefgang, interessantes und ungewöhnliches Setting, lange Spielzeit – was hatten denn die ganzen Kritiker bitteschön für ein Problem? Ich möchte es mit einem Gleichnis sagen. Es gibt zwei Arten, jemandem das Schwimmen beizubringen.
Behutsame Annäherung an das Wasser, gemeinsames Üben der Bewegungen usw.
Schulschwimmen also. Oder die brachiale Variante – reinschmeissen und selbst entdecken lassen, dass jeder schwimmen kann. Ice Pick Lodge sind große Freunde von Variante zwei. Und weil die ihnen immer noch zu mädchenmäßig erschien, haben sie in den See noch einen hungrigen Hai gesetzt und dem Probanden einen großen Stein um den Bauch gebunden. Nun sitzen sie mit ihren Kumpels am Ufer und schnipsen mit Kronkorken nach ihm.
Die Lernkurve am Beginn dieses Spiels gleicht der Eiger Nordwand. Ich habe etwas Vergleichbares bisher noch nicht erlebt. Spielerfeedback ist ganz offensichtlich für die Moskauer ein Fremdwort. Oder der Satan. Beispielsweise steigen an Tag 2 in den Läden einfach so aus dem Nichts die Preise um das Vierfache. Offensichtlich ahnen die Händler schon was. Da man aber zu Beginn kaum über Geld oder tauschbare Gegenstände verfügt, mussman mit den Reserven vom Vortag irgendwie durchhalten. Nur sagt einem das keiner. Also verhungert man am Ende von Tag 2. Falls man aus einer Ahnung heraus am Nachmittag des ersten Tages einen Spielstand außerhalb der beiden Quicksave-Slots angelegt habt – Glück gehabt. Falls nicht, kann man gleich nochmal von vorne starten. Auf diese Art hat man zwar gelernt, strategische Saves zu Beginn und in der Mitte jedes Tages anzulegen und mit seinen Reserven extrem zu haushalten – aber nett war das Ganze nun nicht gerade. Es gibt einen feinen Grat zwischen fordern und frustrieren. Zu Beginn der Zeit in Pathologic ist eindeutig Frust angesagt. Die wenigsten finden so etwas in einem Spiel schön …
Falls das eigene Fell dick genug ist, steht man das durch. Bei mir schlich sich mit Tag 6 so etwas wie Vertrautheit verbunden mit dem Gefühl ein, auf hohem erzählerischen nur leider nicht spielerischem Niveau unterhalten zu werden. Aber sie hatten mich am Haken. Ich wollte wissen, wie es weitergeht. Das hier war etwas Besonderes. Ich hatte so eine Welt noch nie
erlebt – nicht auf den Seiten eines Buches, nicht auf der Leinwand. Und erst recht nicht in einem Videospiel. Nur leider stellen sich noch zwei weitere Ernüchterungen ein.
Erstens verstand ich mitunter einfach nicht den Inhalt dessen, was die NPC´s mir in ihrer metapherndurchwirkten, höchst rätselhaften Sprache erzählten. Darum gewöhnte ich mir an, vor questrelevanten Gesprächen einen Save zu machen. Denn man kann in diesen Gesprächen mitunter sein Gegenüber in den Selbstmord treiben. Oder sich in anderer Art und Weise das Weiterkommen im Spiel verbauen. Da ist es dumm, wenn einem so ein Fehler
einfach aus dem Grund passiert, dass sich einem der Sinn des Gesprochenen nicht völlig erschließen will. Ich bin mir nicht sicher, ob dies nicht auch an einer schlechten Übersetzung aus dem Russischen liegt. Die englische soll wohl derartig verunglückt sein, dass das Szenario der Heilerin mehr oder weniger unspielbar ist, in dem es besonders auf das gesprochene Wort und die Dialogführung ankommt. So krass ist es in der deutschen Fassung nicht. Doch hin und wieder schwimmt man trotzdem und irgendwann ging ich dazu über, im
Zweifelsfall im Walkthrough nachzuschlagen, den Ice Pick Lodge in sein Forum gestellt hat, weil wohl noch mehr Menschen dieses Problem hatten.
Zweitens tendiert das Spiel zu einer gewissen Monotonie im Gameplay. Aufstehen um 7.00 Uhr und auf das Eintrudeln der Tagesquest per Brief warten. Diese besteht in allen drei Szenarien in 90% der Fälle daraus, sich von einem NPC einmal quer durch die Stadt und wieder zurück von Hinz zu Kunz schicken zu lassen. Man redet ein bisschen, latscht zum nächsten weiter, redet auch hier ein bisschen. Unterwegs füllt man seine Vorräte auf, tauscht ein bisschen etwas ein, tötet zur Aufbesserung des Rufes ein paar Wegelagerer und weicht in den infizierten Teilen der Stadt den Seuchewolken und Ratten aus. Über den Tag verteilt trudeln noch zwei bis drei optionale Nebenquests ein, die nach demselben Muster ablaufen und die man so dazwischenquetscht, wo es gerade passt. Zu Beginn ist das noch aufregend, weil man mit dem Zeit- und Statistikmanagement beschäftigt ist. Aber irgendwann hat man begriffen, wie man sich seinen Pathologic-Tag einrichten sollte. Als Seher und später als Heilerin bin ich bis auf wenige Ausnahmen immer auf Anhieb durchgekommen und musste den Tag nicht in einer perfekteren Version nochmals durchspielen, wie noch zu Beginn als unerfahrener Mediziner. Irgendwann stellt sich also Routine ein. Zwar gelingt es Ice Pick
Lodge mit ein paar guten dramaturgischen Tricks hin und wieder, auch später noch für kurzzeitigen Stress und Adrenalinputsch zu sorgen – aber im Großen und Ganzen spielt man das Spiel wegen seiner eigentümlichen Atmosphäre und der wendungsreichen, herausragenden Erzählung zu Ende.
An selbiges bin nun auch ich gelangt. Was bleibt als Fazit? Pathologic ist ein echter
Geheimtipp. Es ist womöglich eines der intelligentesten Spiele, das je für den PC gecoded wurde. Es ist mit Sicherheit eines der ungewöhnlichsten. Erzählerisch hebt es die Gattung auf ein neues, aufregendes Niveau, mit dem das Genre gegenüber guter Belletristik endlich einmal auf Augenhöhe rangiert. Hier kann man tatsächlich einmal sagen: wer diese Geschichte nicht kennt, verpasst etwas und ist zu bedauern. Spielerisch ist es mehr Arbeit als Vergnügen, mehr eine Sammlung interessanter konzeptioneller Ideen, von denen nicht alle in der Umsetzung so gelungen sind, wie sie sich auf dem Papier wohl gelesen haben müssen. Ein Experiment. Und wir sind die Versuchskaninchen.
Ich empfand als eins solches dann doch so etwas wie Vergnügen. Ich fühle mich bereichert und beschenkt durch diese Spiel-Erfahrung. Ob es anderen ähnlich gehen kann, hängt von der eigenen Geduld ab. Wer diesen Text bis an sein Ende durch gestanden hat, hat schon mal gute Karten.
Und was das alles nun mit Twin Peaks zu tun hat? Das soll jeder selbst herausfinden. Nur so viel: die Eulen sind nicht das, was sie scheinen.
Behutsame Annäherung an das Wasser, gemeinsames Üben der Bewegungen usw.
Schulschwimmen also. Oder die brachiale Variante – reinschmeissen und selbst entdecken lassen, dass jeder schwimmen kann. Ice Pick Lodge sind große Freunde von Variante zwei. Und weil die ihnen immer noch zu mädchenmäßig erschien, haben sie in den See noch einen hungrigen Hai gesetzt und dem Probanden einen großen Stein um den Bauch gebunden. Nun sitzen sie mit ihren Kumpels am Ufer und schnipsen mit Kronkorken nach ihm.
Die Lernkurve am Beginn dieses Spiels gleicht der Eiger Nordwand. Ich habe etwas Vergleichbares bisher noch nicht erlebt. Spielerfeedback ist ganz offensichtlich für die Moskauer ein Fremdwort. Oder der Satan. Beispielsweise steigen an Tag 2 in den Läden einfach so aus dem Nichts die Preise um das Vierfache. Offensichtlich ahnen die Händler schon was. Da man aber zu Beginn kaum über Geld oder tauschbare Gegenstände verfügt, mussman mit den Reserven vom Vortag irgendwie durchhalten. Nur sagt einem das keiner. Also verhungert man am Ende von Tag 2. Falls man aus einer Ahnung heraus am Nachmittag des ersten Tages einen Spielstand außerhalb der beiden Quicksave-Slots angelegt habt – Glück gehabt. Falls nicht, kann man gleich nochmal von vorne starten. Auf diese Art hat man zwar gelernt, strategische Saves zu Beginn und in der Mitte jedes Tages anzulegen und mit seinen Reserven extrem zu haushalten – aber nett war das Ganze nun nicht gerade. Es gibt einen feinen Grat zwischen fordern und frustrieren. Zu Beginn der Zeit in Pathologic ist eindeutig Frust angesagt. Die wenigsten finden so etwas in einem Spiel schön …
Falls das eigene Fell dick genug ist, steht man das durch. Bei mir schlich sich mit Tag 6 so etwas wie Vertrautheit verbunden mit dem Gefühl ein, auf hohem erzählerischen nur leider nicht spielerischem Niveau unterhalten zu werden. Aber sie hatten mich am Haken. Ich wollte wissen, wie es weitergeht. Das hier war etwas Besonderes. Ich hatte so eine Welt noch nie
erlebt – nicht auf den Seiten eines Buches, nicht auf der Leinwand. Und erst recht nicht in einem Videospiel. Nur leider stellen sich noch zwei weitere Ernüchterungen ein.
Erstens verstand ich mitunter einfach nicht den Inhalt dessen, was die NPC´s mir in ihrer metapherndurchwirkten, höchst rätselhaften Sprache erzählten. Darum gewöhnte ich mir an, vor questrelevanten Gesprächen einen Save zu machen. Denn man kann in diesen Gesprächen mitunter sein Gegenüber in den Selbstmord treiben. Oder sich in anderer Art und Weise das Weiterkommen im Spiel verbauen. Da ist es dumm, wenn einem so ein Fehler
einfach aus dem Grund passiert, dass sich einem der Sinn des Gesprochenen nicht völlig erschließen will. Ich bin mir nicht sicher, ob dies nicht auch an einer schlechten Übersetzung aus dem Russischen liegt. Die englische soll wohl derartig verunglückt sein, dass das Szenario der Heilerin mehr oder weniger unspielbar ist, in dem es besonders auf das gesprochene Wort und die Dialogführung ankommt. So krass ist es in der deutschen Fassung nicht. Doch hin und wieder schwimmt man trotzdem und irgendwann ging ich dazu über, im
Zweifelsfall im Walkthrough nachzuschlagen, den Ice Pick Lodge in sein Forum gestellt hat, weil wohl noch mehr Menschen dieses Problem hatten.
Zweitens tendiert das Spiel zu einer gewissen Monotonie im Gameplay. Aufstehen um 7.00 Uhr und auf das Eintrudeln der Tagesquest per Brief warten. Diese besteht in allen drei Szenarien in 90% der Fälle daraus, sich von einem NPC einmal quer durch die Stadt und wieder zurück von Hinz zu Kunz schicken zu lassen. Man redet ein bisschen, latscht zum nächsten weiter, redet auch hier ein bisschen. Unterwegs füllt man seine Vorräte auf, tauscht ein bisschen etwas ein, tötet zur Aufbesserung des Rufes ein paar Wegelagerer und weicht in den infizierten Teilen der Stadt den Seuchewolken und Ratten aus. Über den Tag verteilt trudeln noch zwei bis drei optionale Nebenquests ein, die nach demselben Muster ablaufen und die man so dazwischenquetscht, wo es gerade passt. Zu Beginn ist das noch aufregend, weil man mit dem Zeit- und Statistikmanagement beschäftigt ist. Aber irgendwann hat man begriffen, wie man sich seinen Pathologic-Tag einrichten sollte. Als Seher und später als Heilerin bin ich bis auf wenige Ausnahmen immer auf Anhieb durchgekommen und musste den Tag nicht in einer perfekteren Version nochmals durchspielen, wie noch zu Beginn als unerfahrener Mediziner. Irgendwann stellt sich also Routine ein. Zwar gelingt es Ice Pick
Lodge mit ein paar guten dramaturgischen Tricks hin und wieder, auch später noch für kurzzeitigen Stress und Adrenalinputsch zu sorgen – aber im Großen und Ganzen spielt man das Spiel wegen seiner eigentümlichen Atmosphäre und der wendungsreichen, herausragenden Erzählung zu Ende.
An selbiges bin nun auch ich gelangt. Was bleibt als Fazit? Pathologic ist ein echter
Geheimtipp. Es ist womöglich eines der intelligentesten Spiele, das je für den PC gecoded wurde. Es ist mit Sicherheit eines der ungewöhnlichsten. Erzählerisch hebt es die Gattung auf ein neues, aufregendes Niveau, mit dem das Genre gegenüber guter Belletristik endlich einmal auf Augenhöhe rangiert. Hier kann man tatsächlich einmal sagen: wer diese Geschichte nicht kennt, verpasst etwas und ist zu bedauern. Spielerisch ist es mehr Arbeit als Vergnügen, mehr eine Sammlung interessanter konzeptioneller Ideen, von denen nicht alle in der Umsetzung so gelungen sind, wie sie sich auf dem Papier wohl gelesen haben müssen. Ein Experiment. Und wir sind die Versuchskaninchen.
Ich empfand als eins solches dann doch so etwas wie Vergnügen. Ich fühle mich bereichert und beschenkt durch diese Spiel-Erfahrung. Ob es anderen ähnlich gehen kann, hängt von der eigenen Geduld ab. Wer diesen Text bis an sein Ende durch gestanden hat, hat schon mal gute Karten.
Und was das alles nun mit Twin Peaks zu tun hat? Das soll jeder selbst herausfinden. Nur so viel: die Eulen sind nicht das, was sie scheinen.