Mal wieder der dünne Firniss der Zivilisation
1948/49, irgendwo in Anhalt. Im Lausitzer Demontagetrupp liegen die Nerven bei einigen Mitgliedern blank. Nachfolgend im Wortlaut der Beginn der maschinengeschriebenen Meldung eines der Männer der Einheit zum Betragen des Mattick. Gefunden beim Stöbern in Akten.
Da mir verschiedentlich zu Ohren gekommen ist, dass unser Küchen- und Lebensmittelverwalter Mattick sein inzwischen uns allen bemerkbares Unvermögen in der Ausübung seines ihm übertragenen Posten dadurch zu bemänteln versucht, dass er anderen Personen, u.a. auch mir das traurige Ergebnis seiner ungenügenden Arbeit in die Schuhe schieben will, sehe ich mich gezwungen, anschliessend einen den Tatsachen entsprechenden Bericht zu geben, soweit mich die Angelegenheit betrifft. Die als Beweis meiner Angaben dienenden Unterlagen kann ich Ihnen vorlegen, auch wird das Betriebsratsmitglied Hänisch bezeugen können, dass nur einzig und allein Mattick an dem völlig durcheinander erscheinenden Zustand in der sogenannten Sozialbetreuung der Belegschaft die Schuld hat.
Berlin, 04.02.2014
Berliner Nocturne
Als der Sommer für diesmal aus der Stadt fort ging,
war Abend.
Ein Ausatmen schlich über die Plätze und die Gesichter.
Eine Musik erstickte unter dem Brückenbogen.
Und ein Wort war endlich wieder nur Klang.
Am Fluss hielten sich zwei aneinander fest,
und ließen los.
Ein Tanz fuhr vorüber, schaute aber nicht hin.
„Sei doch kein Spielverderber“, mundwinkelte die Frau.
„Verdirb spielend mit mir“, augenbraute der Mann.
An den Stadträndern begann die Dunkelheit,
die Schlinge zuzuziehen.
In einem nachtschwarzen Raum berührten sich zwei Hände.
Und irgendwo
fing ein Junge mit dem Rauchen an.
Berlin, 25.9.2013
Traum von Torgau
Ich sah Dich.
Die Korona der Schrebergärten, wie
sie sich in den Kindheitsdickichten der
Robinien verloren – Lianenwälder,
heimliche Alkoven unterm Hopfenhimmel
hinter dem Industriegleis, am Wasser, wo
der Hafen aufgab. Nebelhorn über dem
Fluss, Nebelhund in den Niederungen
des Sumpflandes.
Ich hörte Dich.
Rauschen der Pappelreihe über der
Hofremise. Schweres Echo der zum
Trocknen hinausgehängten Wäsche im
Luftzug des den Strom hinunter kommenden,
unaufhörlichen Windes. Der Taumel der
Lindenblüten, zusammengeweht in den
Ecken und Jahren.
Ich roch Dich.
Brauereiwind, auf ewig verkeilt unterm
Abhang des Burgbergs. Tankstellenwind,
zweigetaktet an der Schlachthofmauer.
Rostender Kalk. Blühendes Eisen.
Getreidesilostaub.
Und überall Wasser.
Ich wollte alles von Dir wissen. Doch
als die Brücke zu zittern aufhörte,
warst Du schon fort.
Berlin, 28.07.2013
Rückzug
Wieder da, wo man schon war.
Wieder dort, wo man schon fort.
Wieder der Himmel, wieder die Dächer,
wieder die Straße, wieder die Nacht.
Im Gemäuer nagt noch immer der Wurm.
Fast ist er schon beim Herzen.
Unterm Fuß knarrt noch immer die Treppe.
Bald hat sie es geschafft.
Die alten Schatten begrüßen einen.
Man stellt ihnen die neuen Schatten vor.
Die Warschauer kommt ein Wind herunter.
Er bleibt ein Weilchen, zum reden.
"Bald ist Juni", sagt der Mai zum April.
"Sei still und dufte noch ein bisschen."
Berlin, 20.5.2013
November - Elegie
November, großer grauer Bruder, sei mir willkommen!
Seit gestern tropft das Heizungsrohr an der Decke im Flur wieder. Wie jedes Jahr, einen Tag nachdem es draußen zum ersten Mal nach Frost gerochen hat.
Im Treppenhaus lauern einem seit Tagen schon Kinder in Verkleidung auf. Weil man selbstverständlich aich in diesem Jahr Halloween vergessen hatte.
Vor dem Haus verheddert man sich sofort in dem Martinsfestumzug, der hier schon seit einer Woche stoisch unseren Platz umrundet.
Die Freunde kann man noch bis zum Ende des Winters nicht besuchen, weil man bei ihnen Kürbissuppe essen muss. Immer und immer und immer wieder.
Gestern ist das Licht am Fahrrad kaputt gegangen. Diesmal hat es beinahe vier Wochen gehalten.
Überall in der Stadt stehen Dekorateure mit tragischen Gesichtern in den Schaufenstern und sehnen den Advent herbei.
An der Warschauer Brücke ziehen sich die beiden Roma-Musiker ihre Hüte tiefer ins Gesicht und spielen einen Tango.
November, großer grauer Bruder, sei mir willkommen!
Nass und warm hüllt mich Dein Wetter ein. Bleib ruhig noch ein bisschen.
Im Frühling verlieben kann sich jeder.
Brief an Herrn Blauert
Als im Juli Sommerloch war, da erregte eine Debatte Berlin. Eine bekannte Medienköchin aus dem Süddeutschen, die in der Stadt in den letzten Jahren ein Distinktionsimperium für sich kulinarisch zu Höherem berufen Fühlende (hauptsächlich Zuzügler) aufgebaut hat, macht jetzt medienwirksam auch in Brot. Weil man in Berlin da ein Problem habe. Innungsmeister Blauert wurde daraufhin vor die Hauptstadtpresse zum Raport zitiert - und wieß natürlich alles von sich.
Ich habe in einem Leserbrief dann noch gehässig Salz in die Wunde gestreut. Und sie haben ihn gedruckt! Für die Nachwelt sei er auch hier aufbewahrt:
Ach, Herr Blauert. Wenn es doch nur beim Brot bliebe, aber Semmeln und Kuchen bekommt Ihre Innung ja auch nicht hin. Ich lebe seit vierzehn Jahren in Berlin. Ab und an verbringe ich mit hiesigen Freunden ein Wochenende in meiner heimischen Oberlausitz. Da gibt es dann eine gute Eierschecke. Und richtigen Butterstreusel. Hinterher will immer keiner mehr zurück in die Stadt Ihres Wirkens. Lassen Sie sich bitte helfen! Ich gebe Ihnen gern die Adressen von ein paar vernünftigen Dorfbäckern meiner Kindheitslandschaft.
Das gleiche Angebot gilt übrigens auch für die Berliner Fleischerinnung und ganz besonders
auch für die Marken-Brauer der Hauptstadt.
In den Zwischenräumen
Wenn man im Eigenes-Auto-Alter ist und in meiner Gegend Sachsens seine Geschäfte mit dem Bus erledigt – dann ist man ein Sonderling. Fremde Busfahrer duzen einen. Und die Menschen staunen nach vorne und tuscheln nach hinten. Jedenfalls beschleicht einen das Gefühl. „Da fährt ein Bus hin?“ „Geht denn das?“ „Hier gibt es einen Linienbus?“ "Soll ich Dich ein Stück mit dem Auto bringen?" So wundern sie einen an. Man würde kaum mehr auffallen, wenn man sich einen Knochen durch die Nase gezogen hätte.
Also wenn man es nicht eilig hat, geht es schon. Außerdem fällt man zwischen den Dörfern aus den Räumen in die Zwischenräume. Auf den Rufbuslinien zwischen den Bedarfshalten wird das Land groß und weit. Und alt. Die neuen Umgehungsstraßen bleiben fern. Stoisch folgen die von Fahrplanwechsel zu Fahrplanwechsel einfach immer weiter fortgeschriebenen Linien längst in Vergessenheit geratenen Schichtwechseln lange frühverrenteter Arbeiter schon seit Jahrzehnten verschwundener Fabriken und auf immer versiegten Pendlerströmen durch die zwischen den Maisfeldern hingesunkenen Dörfer. Hier und da meint man noch etwas wie ein fernes Vibrieren zu spüren, zum Beispiel beim Umsteigen von Linie zu Linie in Uhyst. Zwanzig Minuten Aufenthalt auf dem Platz des schlafenden Dorfes. Nichts stört die Ruhe. Man denkt darüber nach, wie es wohl wäre, einen der Höfe. Nun ja. Höfe gibt es viele.
In Hoyerswerda füllt sich die Linie 103 grau- und weißhaarig. Auf der Fahrt nach Knappenrode reden sich Mann und Frau im Paar lautstark in Fahrt. Diese Ausländer! Die würden sich hier alle noch wundern mit denen. Schlimm sei das. Besonders in Berlin, da sei es ja richtig übel. Nur gut, dass die hierher nicht auch ---
Im Schienenersatzverkehr irgendwo bei Hosena kommt eine junge Stimme hinter mir ins Reden. In zwei Wochen geht es mit der Truppe nach Afghanistan. Ja, der Vater war ja auch schon Soldat. Man muss halt aufpassen. Aber wenn da so ein kleiner Osama. Wer weiß schon, was wird. Ja, die Mutter macht sich ein bisschen Sorgen. Na ja. Beim Aussteigen kurz rübergeschaut. Mein Gott, ist der ein schmales Kindchen. Seine ältere Zuhörerin scheint das gleiche zu denken.
Inmitten der Mädchenklasse in der Frühlinie nach Niesky. Zeig mir dein Handy, ich zeig dir meins. SMS kitzeln mir zwischen den Rippen hindurch.
Und dann erst der Ferienfahrplan. Aber das ist eine andere Geschichte.
Wenn Architekten hassen: Im Bildermuseum
Leipzig
„Schau Dir das Bildermuseum an, das dürfte Dir mit Deinem Sinn für Bildkombinationen etwas neben der Spur gefallen. Du kannst den Bau nicht verfehlen. Gleich beim Markt. Wenn heute noch die Nazis regieren würden – so würden sie bauen.“
Diese Empfehlung eines Bekannten weckte meine Neugierde. Am Markt fragte ich zur Sicherheit noch mal in einem Buchladen nach. „Ja, gleich hier die Straße runter, da steht der hässliche Kasten. Können Sie gar nicht verfehlen.“
Und tatsächlich. „Ein ordentlicher Kaventsmann“, dachte ich bei mir. „Schnöde in die Stadt hinein brutalisiert. Ein grober Klotz. Aber die Nazis? Das ist ja dann vielleicht doch ein bisschen dolle. Das Glas tut doch keinem was.“
Drinnen verstand ich dann. Oh, die taumelnde Höhe der in den Kubus hinein gebrochenen Atrien! Oh, der dräuende Schimmer der jegliches Maß sprengenden Sichtbeton-Platten! Gesprenkelt raunt ihr zu mir im Einfall des Euch ängstlich und doch ehrfürchtig berührenden Tageslichts! Oh, die tief hinab und hinan führenden Treppen! Oh, die Verlorenheit, ja Hineingeworfenheit des Wachpersonals in die Schlucht des Raumes! Oh, die Magnifizenz der Blickachsen und -winkel! Oh, wie klein selbst auf dem Besucherklo noch der sich im engen Geviert vier Meter in die Höhe aufragenden Sichtbetons zerknirscht hinkauernde Mensch! Die Kluft! Zerrissenheit, oh weh und ach!
Lange stand ich an der Postkartenauswahl und überlegte, wen ich genug verachte, um ihm eine der den Bau feiernden Karten zu schicken. Mir fielen nur Leute ein, von denen ich die Adresse nicht kenne.
Zuhause dann im Internet die Bestätigung dessen, was ich längst ahnte: Berliner Büro. Es reicht uns nicht, dass unsere eigene Stadt hässlich ist. Wir lassen uns jetzt von Euch dafür bezahlen, dass es bei Euch auch bald soweit ist. Be Berlin.
Zum Stand der Dinge zwischen Prenzlau und Stralsund.
Aufgezeichnet beim Blick aus dem RE 69620. Hörbar in murmelndem Ton zu lesen.
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Dreh das Fernsehn ab Mutter, es zieht!
Die gekürzte Georg-Kreisler-Platte der "Everblacks"in der DDR-Staatsausgabe von Amiga lag noch im Zimmer nebenan in der Tüte mit den anderen Platten. Der zugehörige Plattenspieler steht unten im Keller, weil ich zu faul bin, in unsere Anlage einen Anschluss einzubauen, dass sie mit ihm sprechen kann. Nichtmal die Diebe, die vor nun auch schon wieder einem Jahr sämtliche Keller des Hauses durchwühlt haben, nahmen ihn mit. Vielleicht wussten sie gar nicht mehr, was ein Plattenspieler ist.
Heute, wo Georg Kreisler nach einem Tag inzwischen vom tot sein vermutlich schon ganz kalt ist, habe ich sie herübergeholt. Da lacht er mich an mit seiner Gerippe-Hand. Und ich lache zurück. Und denke an das alte Kinderzimmer in den 80er Jahren, wo die Dielen unter der Auslegware ganz kaputt waren weil wir zu oft auf ihnen herumgehüpft waren. Und wo aus dem selben Grund all unsere Kinderzimmer-Schallplatten voll mit Schründen, Rissen und Furchen waren. Vor allem die oft gehörten. Wie eben auch die Kreisler-Platte hier. Schwarzen Humor mit zehn Jahren! Mit Wiener Akzent! Was wusste ich denn, wo Wien ist und wie sie da sprechen.
Aber heute noch fange ich bei längeren Spaziergängen an, das Lied von der Wanderniere zu pfeifen. Passiert einfach so, aus mir heraus.
Hab Dank, Georg! Machs gut.
Mahlsdorf imaginär
Wäre ich Kind in Mahlsdorf, ich führe in meinen nachdenklichen Momenten mit meinem Fahrrad hinaus an den Straßenrand der B5, wo sich der Blick weitet über die Stadtränder und Hochhauslandschaften von Berlin. Zug der Wolken und Flugzeuge, Rauschen der Autos im Rücken. Funkeln der Waldseen unten am Ende des sanft abfallenden Feldes.
In meinen abenteuerlichen Momenten hingegen, schliche ich mich hinüber zu den Feinden nach Kaulsdorf. An der Wuhle, den vierspurigen Verkehr über mir hinweg dröhnend, heckte ich hier im Dämmerlicht der Brücke und des trübe murmelnden Wassers Schreckliches aus.
Ringen mit Rangsdorf
Früh um 8.00 Uhr an einem warmen Sonntag ist das Ostkreuz und mit ihm Berlin ganz bei sich. Als ich nach dem Anschließen des Fahrrads den Kopf hebe, blicke ich auf den Urinstrahl eines Säufers, der neben mir den Bahndamm säuert. Ein paar Meter weiter lässt ein zweiter eine leere Bierflasche, der er einen Bindfaden um den Bauch gebunden hat, versonnen in der Gewitterpfütze der letzten Nacht tauchen. Wonach er in ihr wohl fischen mag?
Draußen in Rangsdorf ist dann alles ganz anders. Gefegte Gehwege und Vorgärten. Am Bahnhof hängt ein Wahlplakat. Jemand will Bürgermeister werden. „Es gibt Alternativen“ hat er geschrieben. Der alternativlose Amtsinhaber plakatiert die restlichen Einfamilienhausstraßen. Wo sie vorläufig enden, planen sie im Gebüsch an der Mauer der ehemaligen Kaserne, wo heimliche Pfade ins unheimliche Kindheitswildnis-Dickicht führen, gerade „Klein Venedig“. In einer Carport-Siedlung, „angelegt nach Feng Shui“, üben Kleinfamilien mit ihrem Nachwuchs Fahrradfahren. Deutschland-Wimpel am kleinen Gepäckträger flattern im Fahrtwind. Auf dem „Platz der deutschen Einheit“ sitzt zwischen den Spielgeräten eine einzelne Pubertierende und hypnotisiert ihr Handy.
Vor der Rückfahrt spüle ich mir am Bahnhof mit einem Greizer Schloß Pils Rangsdorf wieder aus den Knochen.
Halleluja Berlin
Der kleine Marktplatz von Ruhland. Früher mal Ackerbürger. Vorposten im Nirgendwo am Rand der Heide. Draußen tobt die Autobahn über die Schwarze Elster. Im „Pizza- & Kebabhaus Bonema“ fällt der Blick des Mannes am Fleischspieß hinaus auf den Mietwagen. Berliner Kennzeichen. Mit begeisterten Augen frisst er mich auf. „Berlin?“ Ich nicke. Sein Gesicht strahlt.
Und plötzlich riecht es im „Bonema“ wie Gewürze aus dem Orient, wie Karawanserei, wie Poststation, wie Pferdewechsel, wie Kaufmannswagen mit Ochsengespann. Komm Fremder, erzähl von der Welt. Erzähl von der Stadt! Hast Du die Verwandten gesehen?
Seither sehe ich die Dönerwagen und -imbisse in den Weiten des Landes mit noch freundlicheren Augen. Kleine Sehnsuchtskapseln.
Die Irland-Frage
Man hört und liest ja grade so viel über das bankrotte Irland und wie teuer es uns doch alle kommt, dessen Staatsfinanzen zu sanieren. Ich finde das auch schlimm. Aber ich habe auch eine Lösung. Ich bin ziemlich sicher, dass es viel billiger wäre, die paar Millionen Iren einfach komplett auf die überalterten und zunehmend entvölkerten Randbereiche der restlichen EU aufzuteilen und mit einer Startfinanzierung auf ihre neuen Heimatregionen loszulassen. Das sind nette Leute, auswanderungserfahren, umgänglich, musikalisch. Und aus dem solcherart entleerten Inselstaat macht man ein Reservat für die verbliebenen 3.400 in Freiheit lebenden Tiger. Damit sollte doch allen gedient sein.
Eltern und Kinder
Gestern abend am Grill in einem Friedrichshainer Hinterhof erzählte man mir folgende kleine Geschichte: Da ist eine Familie, in der es seit vielen Generationen üblich war, den männlichen Erstgeborenen Otto zu nennen. Gerade sind wieder zwei Eltern geworden und bekamen einen Jungen. Und, was soll man sagen, sie haben mit der Tradition gebrochen. Sie gaben dem Kind den Namen Thomas.
Pubertät
Gestern hatte ich am Grund unseres Hinterhofs in den späten Nachmittagsstunden eine Begegnung. Ein dicklicher Junge prügelte dort selbstvergessen und mit verbissener Ernsthaftigkeit auf einen in die Erde eingegrabenen, aufrecht stehenden, recht massiven Holzpfahl ein. Die Szene erinnerte an die Trainingspassagen in 80er-Jahre-Kung-Fu-Filmen. Neben ihm auf unserer von der Feuchtigkeit angegrünten Hinterhofsitzecke lag die schwarz bemalte Holzattrappe einer Panzerfaust.
Brandenburgische Gebrauchslyrik
Silvio Klaue aus Beeskow am Schwielochsee umschreibt sein Tourismusangebot im Internet mit folgenden Worten:
Bei uns können Sie mit verschiedenen Rad- und Kettenfahrzeugen mit- und selber fahren.
Darunter zählen:
Kettenpanzer BMP1
Radpanzer SPW40
LKW Sil 131 und Ural 375
Sie lernen hier nicht nur das Fahren mit einem 13 Tonnen schweren Kettenpanzer, sondern werden auch durch die einzige erhaltene Feldbackanlage der NVA versorgt. Es finden vierzehntägig Backtage statt.
Und als wäre all das nicht wirklich schon verlockend genug, hat er sich noch einen tollen Slogan für seine Geschäftsidee ausgedacht:
Panzer-Fun für jedermann
Also der nächste Ausflug geht nach Beeskow, ganz klar.
Körperwelten, deutsch-deutsch
Als Sonntag Nacht der Sturm über der Stadt hauste, spülte uns der ihn begleitende Starkregen die Treppen hinunter zum Bahnsteig der U2 unter dem Senefelder Platz. Wir nahmen die nächste U-Bahn zum Alexanderplatz. Im ersten Wagen hing neben der Fahrertür eine Werbung für eines dieser Ganzkörper-Epilier-Studios, die seit einiger Zeit in Berlin grassieren. Hinten ein schemenhafter glatthäutiger Mann, vorne eine ebenso makellos nackte Frau, die ihre Hände über ihren Brüsten verschränkte, wie man das bei solcher Werbung eben so macht. Auf die links unter ihrem Unterarm etwas hervorlugende Brust hat ein Fahrgast was mit schwarzem Edding geschrieben. "Kleine West Titten" stand da.
Stadt-Marketing
Beim Blättern in der Kladde des letzten Sommers die Bemerkung gefunden, die eine gute Bekannte zu dem Eindruck machte, den der Bahnhof von Malchin bei ihr hinterließ und die ich mir gleich aufgeschrieben hatte:
"Man merkt, da war mal was."
Ein toller Slogan! "Malchin - man merkt, da war mal was." Geht mit noch ganz viel anderen Orten! Einfach bei Gelegenheit mal ausprobieren. Gerne auch mit Berlin natürlich. "Berlin - Man merkt, da war mal was." Toll!
Wohnungssuche
Wir haben es ja nun geschafft. Umzug innerhalb Friedrichshains! Und die neue Wohnung tatsächlich noch bezahlbar. Wenn man über zehn Jahre nix mehr mit dem Mietmarkt von Berlin zu tun hatte, schocken einen die neuen Preisverhältnisse ja doch. Dass aber neben dem Kostenfaktor noch ganz andere Dinge die Wohnungssuche in Berlin erschweren können, soll der im Folgenden hier wiedergegebene Anzeigen-Text verdeutlichen, den ich am Notizbrett im Traveplatz-Edeka entdeckt habe und der da eine ganze Weile lang herumhing:
"Ich suche eine Untermietmöglichkeit zu 110 €/ Mon. Ich möchte keine Vermieter, die Zwillinge, Krebs, Skorpion, Widder, Löwe, Wassermann u. Schütze als Sternzeichen haben. Bitte keine SMS und Anrufer, die als unbekannt auf meinem Handy erscheinen."
Neu am Traveplatz
Genau, und zwar schon seit Mitte August. Immer noch im Friedrichshain, stimmt schon. Doch, ach, wie anders und fremd ist es hier auf der anderen Seite der Boxhagener Straße! Wie merkwürdig still, trotz des Kindergelärms im Park da unten. Immer wieder ertappe ich mich bei wehmütigen Gedanken an meine vergammelte, vollgeschissene, vollgekotzte und vollgepisste, laute Warschauer Straße. Wie fehlt mir mitunter die Lärmamplitude des vor unserem dortigen Haus an der Ampel auf- und abbrandenen Verkehrs. Das Quietschen der Tram, das Aufheulen der nachmitternächtlichen Sirenen diverser Notdienste. Ja, selbst das Herumgejohle der spanischen Pauschaltouristen unten vor unserem anatolischen Spätkauf. Hier gibt es keine Spanier und kaum Kotze. In den wenigen Spätverkäufen stehen traurig dreinblickende Asiatinnen und frieren vor ihren Ahnenschreinen. In den Eckkneipen herrscht biedere Tristesse: Entweder noch restproletarische oder schon bionadebiedermeierliche. Ist wohl das Wort dafür, das neue. Wir sind in einem Mutter-Vater-Kind-Viertel gelandet! Alle sind hier nett zueinander. Alles wirkt freundlich und harmonisch. Man kennt sich hier. Man wohnt hier schon länger, war zusammen auf der Uni und bekommt jetzt miteinander Kinder. Kein Verkehrslärm. Auch kaum Passanten auf den baumüberschatteten Einbahnstraßen. Vorm Supamolly verkehrsberuhigen sie gerade die Jessener Straße. Im Haus wollten sie uns gleich kennenlernen, was wir aber nonchalant haben von uns abprallen lassen. Genauso wie ihre Anwerbeversuche für den hiesigen Netzwerk-Bioladen. Als ich da zum ersten Mal neugierig vor dem Nachrichtenbrett stand, fiel mir eine Wohnungsanzeige ins Auge. Da wollte jemand seine Wohnung hier im Kietz abgeben, aber nur an jemanden, der hier im Laden Mitglied wird, "um im Griff zu behalten, wer hier so zuzieht" oder so ähnlich stand es da. Der Traveplatz - Bastion, Vorposten und Bollwerk der Neu-Berliner Bio-Babybrei-Konsens-Mafia! Schwärender Wurmfortsatz des eiternden Prenzlauer Berg Geschwürs. Wenn die Sehnsucht zu groß wird, folgen wir den Tramschienen, hinüber auf die normale Seite, da wo Berlin wieder Großstadt ist. Im Hops & Barley beim zweiten Bier fällt der Alb dann langsam von uns ab. Vielleicht saufen wir uns hier auch einfach mal wieder so richtig einen an. Und dann kotzen wir der hockenden Frauenstatue auf dem Traveplatz von hinten auf die Schulter.
Namen, vor dem Vergessen gerettet
Eben meinen Spam-Ordner gelöscht. Dabei festgestellt, wie schön die generischen Absender-Namen sind. Gewissensbisse. Bewunderung für die Phantasie der Maschine. Beschluss zur Anlage eines Steinbruches. Bediene sich ein jeder, Richmal Joyce und Yuri Monsman wollen belebt werden!
Hier eine erste Auswahl:
Azure Wiggins
Reggie Hanna
Wava Mcaboy
Karen Winfough
Brock Hatfield
Junie Grochow
Richmal Joyce
Renetta Cynova
Dwight Vasso
Leigh Demilt
Tatyanna Mcelroy
Chere Mintey
Adria Kistle
Marc Mathieu
Marina Prather
Abe Robbie
Yuri Monsman
Endlich
Berlin, 17.11.2008
FROM,JALIKI GORDON
OF GORDONS CHAMBERS.
Boulevard Saint-Michel
01 BP 561, Cotonou,
République du Bénin
Telephone;00229-9872-8985
Hello Dear,
This massage is from Jaliki Gordon,attorney/personal assistant to Late Joerg Lorenc, a nationalty of your country, who used to work as the Director of Total des Produits Petroliers(Total Benin)Oil Company in Benin Republic West Africa Here in after shall be Referred to as my client. On the 18th of April 2004, my client, His wife and their only Child were involved in a car accident Along Akparaja High-way. All occupants of the vehicle Unfortunately lost their lives.Since then I have made several enquiries to your embassy to locate any of my clients extended relatives this has also proved Unsuccessful.
After these several unsuccessful attempts, I decided to track His last name over the Internet, to locate any member of his Family hence I contacted you. I have contacted you to assist in Repatriating the money and property left behind by my client before they get confiscated or declared unserviceable by the bank here. These huge deposits were lodged particularly, with the "BANK INTERNATIONAL DU BENIN where the Deceased had an account valued at about $10.5 million dollars. The Bank has issued me a notice to provide the next of kin or have the account confiscated.
Since I have been unsuccessful in Locating the relatives for over 2 years now I seek your consent to present you as the next of kin of the deceased since you have The same last name so that the proceeds of this account valued at $10.5 million dollars can be paid to you and then you and me can Share the money.40% to me and 60% to you I will procure all Necessary legal documents that can be used to back up any claim we may make.All I require is your honest cooperation to enable us seeing this Deal through. I guarantee that this will be executed under a legitimate arrangement that will protect you from any breach of the law. And the way we are going to achieve this is I will need the following information from you,
Your Full Name and Address,
Your Age, Occupation and Position,
Your Telephone and Mobile for Communication Purpose.
I await your reply ASAP.
Best Regards.
Jaliki Gordon
Tel.+229-9872-8985
Schrumpfstadt-Blues
Berlin, 11.11.2008
1. In Görlitz entdecktes Autonummernschild: GR AM
2. Auf der "Jungen Welt" beim Spiel FSV Gelb Weiß Görlitz - FC Oberlausitz Neugersdorf werden Auswechslungen, Tore usw. wie folgt angesagt: "Das 0:3 für die Gäste wird Ihnen präsentiert von Scholz Recycling - Kompetenz in Schrott"
Der kalte Blick des Stadt-Wanderers, hier wird er deutlich.
Business in Berlin
Berlin, 24.10.2008
Neulich fand sich in unserem Briefkasten eine Geschäftswerbung für den "Service Point", der sein Dienstleistungsspektrum wie folgt umreißt:
- Vermittlung von handwerklichen Dienstleistungen
- Werkzeugverleih
- Briefkastenentleerung während des Urlaubs
- Umzüge/ Umzugshilfe
- Hilfe bei der Suchen von Nachmietern
- Vermittlung von Ferienwohnungen
- Hilfe beim Einrichten von Internet- und Telefonanschlüssen
- Reinigungsservice, Glasreinigung
- Abstrakte Malerei
E-Mail: [email protected]
Berlin macht mich oft sehr traurig.
Geographie Europas, vom "Zentrum" aus
Berlin, 28.08.2008
Gerade in einer Radiobesprechung vom neuen Stasiuk gehört:
"Diesmal führte ihn seine Reise nicht durch den Osten Europas, wie zum Beispiel durch Rumänien, Tschechien oder Albanien [...]"
Das ist lustig! Los Kundera, lach´ schon!
Xenophobie in 3D
Berlin, 27.08.2008
Zum Leidwesen einiger meiner nahestehendsten Mitmenschen spiele ich ja hin und wieder gerne PC-Spiele. Ein altes und schönes Laster. Weil ich im Moment keine Lust habe, meine Kiste aufzurüsten (und das aktuelle Angebot auf dem Spielemarkt so dröge ist, dass das auch gar nicht nötig wäre...), guck ich ab und an im Netz rum nach frei runterladbaren alten Hits, die mir damals entgangen sein könnten. Eben wieder, Duke Nukem 3D! Yeah! Obwohl die folgende Inhaltsangabe ja doch irgendwie betroffen macht:
Beschreibung Duke Nukem 3D
Ausländer sind in futuristischem Los Angeles gelandet, und es ist bis zum Herzog, zum der Schmerz zu holen und ihnen der Tür zu zeigen. Es ist Zeit Esel, und Kaugummi zu treten zu beginnen? und aller er ist aus Gummi heraus! Romp durch die ausländische geplagte Stadt von Los Angeles.
Klingt für mich wie die Kurzbeschreibung eines Schulungswochenendes der Jungen Nationalen Legastheniker.
Ratschläge aus dem Cyberspace
Berlin, 14.08.2008
Seit längerem erhalte ich Tag für Tag eine gleichlautende Spam-Botschaft und so langsam werde ich mürbe:
"Man lebt nur einmal - probiers aus!"
Heute kam sie von "Cathleen Bacon". Vielleicht ist es ja ein Massenhypnose-Experiment von irgendwem ganz finsteren. Ich habe Angst.
Lärmphilosophie
Berlin, 27.07.2008
Eben habe ich in meiner Kladde ein Notiz vom 29.9.2007 wiedergefunden. Bauleiter H. äußert sich hier in der Lokalausgabe Bautzen der Sächsischen Zeitung zu den Implikationen seiner Tätigkeit für seine Mitmenschen:
"Manche Anwohner beschweren sich über den Lärm. Zwar ist es jetzt umso lauter, dafür ist dann Ruhe, wenn wir fertig sind."
Das kann man in seiner analytischen Schärfe wirklich einmal kommentarlos so im Raum stehen lassen.
Gentrifizierung
Berlin, 23.7.2008
Soll man eine so junge Seite gleich mit grollender Polemik eröffnen? Aber klar. Heute hat der Tagesspiegel, Berlins Sprachrohr des gehobenen Bürgertums - und weil es eben jenes hier so schwer hat, die übellaunigste und nöligste Zeitung Berlins - einen Artikel zur zunehmenden Gentrifizierung der zentrumsnahen Viertel veröffentlicht. Und in den Kommmentaren meldet sich auch einer aus meinem Kiez:
von plus 8 | 23.07.2008 00:15:47 Uhr
Verdrängung eingesessener Mieter? Typische Neiddebatte
... Jetzt läuft wieder das übliche Gejammer über die Verdrängung eingesessener Mieter in den beliebtesten Wohngegenden durch böse Yuppies.
Ich gehöre zu denjenigen, die vor einiger Zeit in eine sanierte Wohnung in unmittelbarer Nähe des Boxhagener Platz gezogen sind; d.h. ich wohne in einer bevorzugten Wohnlage.
Mich stört es überhaupt nicht, daß Wohnraum in diesem Teil Berlins relativ teuer ist. Guter Wohnraum in guten Lagen ist nie preisgünstig. Wer sich einen solchen Luxus nicht leisten kann/will, muß in preisgünstigere Stadtteile ausweichen.
Die häufig zitierte sanierte 65 qm Altbauwohnung in Friedrichshain, die bis vor kurzem noch für ein Schnäppchen zu haben war, ist natürlich auch so ein Schmarn: Ich zahle jedoch für eine solche Wohnung nur ca. 20 % meines monatlichen Nettoeinkommens.
Bevor jetzt die üblichen (linken) Neiddebatten starten: Seid doch froh, daß es wenigstens ein paar Steuerzahler in Friedrichshain gibt, die eure Fettlebe bezahlen!
Ich hab dann dazu eine Replik verfasst, die dem Tagesspiegel für sein Forum wohl zu handgreiflich war. Tja, veröffentliche ich sie halt hier:
Ein herzliches Grüß Gott,
lieber Neu-Friedrichshainer! Schon bitter, da hat man es erfolgreich aus der Heimat nach Berlin geschafft, um mit seinen 2.500,- netto am Boxhagener Platz den dicken Oberschichtler raushängen zu lassen und sich unter den zahllosen Gasheizpilzen der Strassenkneipen die Fontanelle zu bräunen - und dann versaut einem der Harz IV - Pöbel hier das Ambiente. Lässt seine Tölen überall auf die Gehwege scheißen, wählt völlig widersinnig Mediaspree ab und kauft auf dem Boxi-Wochenmarkt abgepacktes 1-Euro-Fleisch und Gammelbananen bei den Ramschhändlern. Ein Jammer das Deine Kohle nicht für die Mieten am Kollwitzplatz gereicht hat, ist es nicht? Aber keine Sorge, bald sind wir alle weg und lauern Dir bei Deinen Ausflügen an den grünen Stadtrand in den Vorstädten auf, wo wir eben auch hingehören und dann hat endlich auch in Berlin alles seine schöne Ordnung. Prosit & Servus!