Zweiundzwanzig Nocturnen
Auf den folgenden Seiten findet sich eine Gesamtschau des Schaffens von Tom Waits, die ich im Lauf des Jahres 2011 auf amazon.de veröffentlicht habe. Ich widme sie ihm in dem Jahr, in dem er völlig zu Recht und längst überfällig in die "Rock´n´roll Hall of fame" aufgenommen wurde. Zusammen mit Alice Cooper. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Danke, Tom! Auf noch viele Jahre.
Waits No 1: Martha und der Eiscreme-Mann unterm Pampelmusenmond
Es gibt Menschen, die ganz tief in ihrem Herzen Tom immer noch verübeln, dass er nach "Closing Time" nicht einfach so weiter gemacht hat. Mit dieser zarten, noch nicht vom Tabak und Alkohol gebrochenen Stimme. Mit diesen schwermütigen, leisen Klavierballaden immer hart an der Grenze zum Kitsch - aber nie jenseits von ihr. Sehnsuchtsvolle Telefonanrufe bei einer Frau, der man zum richtigen Zeitpunkt verpasst hat, seine Liebe zu gestehen - vor Jahren. Einsamkeit. Eine Ode an das alte Auto, das einen durch die Nacht trägt. Über allem leuchtet der Pampelmusenmond. Und nach Geschäftsschluss der Platte entlässt uns ein melancholisches Instrumental mit verwundetem Herzen in die Welt.
Der Himmel über diesem Debüt-Album von 1973 hängt voller schmachtender Geigen. Zart und dunkel brummt der Bass. Das Kaminfeuer knistert. Über dem Klavier glimmt im Dunkeln eine Zigarette. Lass uns kuscheln gehen.
Aber da ist eben auch der Eiscreme-Mann, der für einen tut was er kann. Und da ist der lange Spaziergang die Virginia Avenue hinunter. Mehr als 35 Jahre später wird ein alt gewordener Tom von der "Fannin Street" singen, die man lieber nicht hinunter gehen solle, denn man würde in ihr verloren gehen, keiner würde einen in ihr mehr finden, eine Umkehr wäre nicht mehr möglich.
In "Closing Time" steht Tom am Beginn dieser Straße. Er wird in sie einbiegen - und wir werden ihm in ihre Untiefen folgen, durch dick und dünn. An ihren Anfang werden wir nicht mehr zurückkehren. Nur diese Platte führt uns manchmal an diese entscheidende Weggabelung zurück. Tom singt die Lieder von damals heute nicht mehr. Aber wir können sie einfach nicht vergessen.
Waits No 2: Frontscheibendiamanten im Neonlicht der Geister von Sonnabend Nacht
1974. Tom hat seine Buddys gefunden - Bones Howe und Herb Cohen. Am Freitag haben sie ihr Geld bekommen. Nun ist Sonnabend und die Lichter der Stadt warten auf sie.
Ich mag diese Platte. Eigentlich ist sie mein heimlicher Liebling der Waitsschen 1970er. Sie ist so ein schönes Dazwischen. Einerseits sind da noch ein bisschen die Erinnerungen an den Babyspeck von Closing Time. Die "San Diego Serenade" ist ganz dem Geist des Erstlingswerks verbunden. Und mit "The heart of saturday night" und vorallem dem zum Sterben schönen "Shiver me timbers" finden sich auf der A-Seite zwei der wunderbarsten Schmachtfetzen seines an Schmachtfetzen reichen Repertoires.
Aber da ist auch der Jazz, die Barmusik. Der Kontrabass hüpft immer beschwingter im Bodensatz der Stücke herum. Finger schnipsen. Ein Saxophon stänkert. Und Tom fängt damit an, seinen typischen erzählenden Sprechgesang zu entwickeln, in den sich bereits erste frühe Proben seiner später zur Meisterschaft entwickelten Metaphern-Sprache einflechten. Auf der A-Seite geht es schon los mit dem tollen "Diamonds on my windshield". Die B-Seite ist dann reines Bar-Gecroone. Was kostet die Welt? "Drunk on the moon" ist ganz großartig. Und als Rausschmeißer "The Ghosts of saturday night", das so atmosphärisch ist, dass man sich sofort neben den Jungs auf der regennassen Straße im Lampenschein des Zeitungskiosk sieht, tief in der Nacht, wo der Beginn des Abends weit zurück liegt und an den Morgen noch gar nicht zu denken ist.
"The heart of saturday night" ist eine Passage tiefer in die Nacht hinein. Tom stolpert voran. Und wir hinterdrein.
Waits No 3: Imbissbuden, Schnellrestaurants und ein Geschichtenerzähler
1975, nach zwei wohlwollend aufgenommenen Platten und mit einem sich vergrößernden Bekanntheitsgrad im Rücken, macht Tom sein erstes Life-Album. Aber er singt sich nicht einfach durch sein vorhandenes Repertoire, wie es sich für ein normales Life-Album gehört.
Nein, er versammelt ein paar Leute, hockt sich mit der Band vor sie hin und erzählt den Anwesenden über eine Stunde lang Geschichten aus Bars, runtergekommenen Apartments und von der Einsamkeit der Landstraßen. Klar erkennbare Songstrukturen gibt es nur manchmal. Oft vermischen sich die Intros mit den Songs, die in den allermeisten Fällen von Toms typischem Sprechgesang getragen werden. Zu all dem croont die Band herum, das Klavier klimpert, der Bass brummt, hüpft und maunzt wie ein alter Kater, das Schlagzeug scheppert.
Die Geschichten sind dann meistenteils sehr komisch, getragen von Toms Wortwitz. "Warmes Bier und kalte Frauen", "Kaffee, stark genug, um sich selbst verteidigen zu können". Solche Sachen. Tom ist ein guter Unterhalter, mitunter verschwimmen die Grenzen zur Comedy. So jemanden hat jeder gerne auf seiner Party.
Heraus ragen für mich zwei Stücke: "Eggs and Sausage" und "Big Joe and Phantom 309". Letzteres ist eine Gespenstergeschichte in der Einsamkeit der nächtlichen Highways, die atmosphärisch ist bis dort hinaus.
Eine Platte zum Hören, während man seinen Sonntag im Bett vertrödelt. Gute Englischkenntnisse voraus gesetzt.
Waits No 4: Ein betrunkenes Klavier, Tom Traubert und Einer, der davon gekommen ist
"Small Change" von 1976 ist nach zwei Studioalben und einer Live-Platte Toms vierte Aufnahme - und es ist die Quintessenz seiner ersten Schaffens-Dekade. In den hier enthaltenen elf Songs ist alles komprimiert, was seine 1970er Jahre ausmacht. Er erreicht in ihnen seinen ersten Höhepunkt. Wenn Sie sich nur ein Album des frühen Waits anschaffen wollen: hier ist es.
Es beginnt mit dem dramatischen "Tom Trauberts Blues", der balladigsten all seiner Balladen, um gleich darauf in das nervös vibrierende "Step right up" über zu gehen. "The piano has been drinking", die No 5, nimmt die Comedy des Live-Vorgängers "Nighthawkes at the diner" wieder auf. Wie Tom hier mit der Szenerie einer Bar sein doppelbödiges Metaphernspiel treibt, ist großartig und extrem witzig. Gleich darauf folgt "Invitation to the blues", das so traurig ist, dass man ein bisschen weinen möchte. Doch auch diese Stimmung wird gleich wieder gebrochen, denn nun folgen im letzten Drittel vier Songs aufeinander, in denen Tom uns in die Untiefen der großen Stadt mitnimmt, zu den Trinkern, kleinen Gangstern, Zuhältern, Obdachlosen und Tramps. Wie er ihre Verlorenheit in diesen Liedern aufscheinen lässt, ist atemberaubend. Zu all dem pulsiert ein fisseliger Jazz, aus dem sich vor allem das Saxophon immer wieder kreischend heraushebt, besonders in "Small Change", dem Titelstück.
Tom ist jetzt ganz bei sich. In den Liedern über die Abgestürzten, die Aus der Bahn-Geratenen und Gestrauchelten im kalten, dunklen Atem der Stadt - da, wo sie am finstersten und grausamsten ist - hat er sein Sujet gefunden. Er will unser Stadtführer in die dunklen Abgründe sein. Und wie bereitwillig wir uns von ihm mitziehen lassen, immer einen Block weiter, in noch eine Bar, noch schlimmer als die vorige. Er kennt die Leute hier. Und bald tun wir das auch.
Waits No 5: Potters Feld, ein Autounfall und ein Piano
Fünf Jahre lang hat Tom jedes Jahr ein neues Album veröffentlicht. Er hat sich über die Zeit in seine eigene Kunstfigur verwandelt, in einen Widergänger der alten Beatniks, einen Bukowski und Kerouac am Bar-Piano. 1977 mit "Foreign Affairs" hat der Zug seine scheinbare Endhaltestelle erreicht. Der künstlerische Höhenflug des grandiosen Vorgängers "Small Change" fordert seinen Tribut. "Foreign Affairs" ist wie der schlimme Kater nach der besten Nacht des Jahres.
Diese Platte macht es dem Waits-Fan nicht leicht. Natürlich steht sie in der Reihe neben all ihren Brüdern und Schwestern. Aber so oft man sie auch hört - sie bleibt auf dem ungeliebten letzten Platz. Man würde sie so gern lieb gewinnen. Aber es will und will nicht klappen.
Die ersten vier Lieder lang passiert gar nichts. Nichts. Das Duett mit Bette Midler in "Never talk to strangers" funktioniert nicht. In "Muriel" wird Tom stimmlich zur Karikatur seiner selbst. Man leidet richtig mit, so schleppend ist das alles. Erst in der zweiten Hälfte gibt es einige Lichtblicke. Die Piano-Melodie von "A sight for sore eyes" ist schön. Dann kommt als No 6 "Potters Field", das über dem ganzen Album hängt wie eine dunkle Gewitterwolke. Es passt nicht in diese Platte hinein - aber es ist in seiner theatralischen Überzogenheit, in seiner metaphorischen Bild-Überfrachtung und mit einer Länge von 8:38 Min eine unvergessliche Wegmarke im Waitsschen Gesamtwerk. Danach folgt "Burma-Shave", eine dunkle Ballade und der mit Abstand beste, herausragendste Song des Albums. Und zum Ausklang gibt es "Foreign Affair", das keinem weiter weh tut.
Wegen zweieinhalb gelungener Songs eine CD kaufen? Andererseits: in guten wie in schlechten Tagen. Wir bleiben an der Seite des verloren am Klavier Gestrandeten. Es ist das letzte Mal, dass er von hier aus all seine Lieder für uns singen wird. Der Klavierschemel ist zu klein geworden für die Musik dieses Mannes. Es hat "Foreign Affairs" gebraucht, um sich dessen bewusst zu werden.
Waits No 6: Ein blutender Romeo auf der falschen Straßenseite unterwegs nach New Orleans im Herbst
1978 öffnet sich mit "Blue Valentine" ein Zeitfenster. Wir begegnen hier einem Tom, der den Blues hat - und zwar in seiner schmutzigen, rockigen Variante. Über zehn Jahre später in den 1990ern wird er an das, was hier zu hören ist, anknüpfen und es zur Perfektion treiben. Doch wie es mit Blicken in die Zukunft so ist: im Moment, da sie sich auftun, verstehen wir sie nur bedingt.
"Blue Valentine" ist der schroffe Solitär der Waitschen 1970er. Tom lässt das Piano Piano sein und kehrt nur noch selten an seine Tasten zurück. Das Saxophon wird in den Hintergrund verbannt. Dafür grooven Gitarren und eine Orgel wabert aufrührerisch im Vordergrund der Songs herum. Und Tom entdeckt nun mehr und mehr das Instrument, mit dem er das Klavier in Zukunft ersetzen wird: seine Stimme. Er heult, krächzt, hustet und bellt. Noch greift er nicht zum Megaphone. Aber wer ihn auf "Blue Valentine" beobachtet, der wird über den späteren Human-Beat-Box-Tom der 1990er und 2000er nicht mehr erstaunt sein.
In den Songs geht es garstiger zu denn je. Männer verbluten - an Schusswunden und am gebrochenen Herz. Auf Friedhöfen wird herum gepfiffen, Mädchen haben nicht mehr unter ihren Jeans als süße kleine Wünsche und hübsche, blaue Träume. Keiner kommt hier gesund an Körper und Geist wieder raus. Wie zum Hohn beginnt Tom diesen brechtschen Kreaturen-Reigen mit einem wunderschönen, weltverlorenen "Somewhere"-Cover. Danach geht es in sieben Songs ungeschminkt zur Sache, wobei unter anderem "Romeo is bleeding" noch lange bei uns bleibt. Einzig "Kentucky Avenue" kurz vor Schluss, das so schön ist, dass man beim Hören in Tränen ausbrechen möchte, taucht die Szenerie für fünf Minuten in ein wehmütiges Altweibersommer-Licht verlorener Kindheitstage. Nur um einen Song weiter mit einer süßen kleinen Kugel aus einer hübschen blauen Knarre mitten ins Herz getroffen zu werden.
"Blue Valentine" ist ein Versprechen auf die Zukunft. Hier stehen Veränderungen ins Haus. Eine Platte, zu der man immer wieder zurück kehrt und die mit der Zeit reift wie selbst gepanschter Gin in einem rostigen Benzinfass hinter dem Schuppen.
Waits No 7: Ein mexikanisches Bordell, ein Mädchen aus Jersey und Rubys Zimmer im Morgengrauen
1980, nach zwei Jahren Pause, bekommt "Blue Valentine", die ruppige große Schwester aus dem Jahr 1978, einen kleinen aufgeweckten Bruder mit melancholischem Herz geschenkt: "Heartattack and Vine". Toms siebte Platte, die letzte, die er für Asylum Records einspielen wird, ist womöglich seine entspannteste und lässigste überhaupt. Smoove bis dorthinaus.
Erneut präsentiert er uns den schon vom Vorgänger bekannten rockigen Blues, der noch eine Spur gitarrenlastiger geworden ist. Gleich der erste Ton im titelgebenden, beschwingt voran stolpernden Opener gehört Toms E-Gitarre. Und mit der Refrain-Zeile: "Don't you know, there is no devil - its only Good than he's drunk" findet sich hier einer seiner ersten typischen Bonmots.
Dieses Mal gibt es auch wieder mehr Balladeskes. "Saving all my love for you", in dem Tom noch mal ans Klavier zurückkehrt, ist in diesem Zusammenhang deswegen bemerkenswert, weil hier in den Percussions zum ersten Mal Glocken eine wichtige Rolle spielen. Und auch das folgende, rockige "Downtown" weißt in vielerlei Hinsicht auf den Sound von "Swordfishtrombones" voraus. "Jersey Girl" als No 5 ist dann die womöglich schnulzigste Waits-Schnulze überhaupt, würde er Deutsch singen, ginge sie als vollwertiger Schlager durch. Man kann sogar Eins-Zwei-Tipp dazu tanzen. Am Bass findet sich hier zum allerersten Mal Greg Cohen ein, der für die nächsten Jahre ein treuer Begleiter sein wird. "On the Nickel" ist eine berührende Reminiszenz an seine Balladen der 1970er, "Mr. Siegal" das besonders garstig geratene Portrait eines echten Schufts.
Bleibt zum Schluss als No 9 "Ruby's arms". Ein mehr als symbolischer Song. In ihm nimmt ein Mann heimlich Abschied von seiner schlafenden Liebsten. Er stiehlt sich davon, sie soll nicht wach werden. Es ist ein Abschied für immer. Ein trauriges Lied. Tom sitzt ein letztes Mal am Klavier, seine Stimme ist sanft wie lange nicht, ein ganzes Violinen-Orchester schluchzt dazu. Hier geht nicht nur eine Liebschaft zu Ende. Im letzten Song dieser Platte sagt der gute alte Klavier-Tom endgültig Lebewohl. Ein letztes Mal hängt der Himmel über einem seiner Lieder voller Geigen. Etwas geht zu Ende, ein Bogen schließt sich. Draußen zieht der Morgen auf. Der Güterzug, den Tom erwischen will, heult. Er wird uns zu neuen aufregenden Song-Gestaden mitnehmen. Die Anfänge haben sich auf dieser Platte bereits angedeutet. Es gibt kein Zurück mehr.
Vorn auf dem Cover unter seinem Foto lesen wir Folgendes: "Shortly before dawn Sunday this South Central Los Angeles man was seen leaving the corner of Western and 110th St. in burnt sienna Chrysler Imperial and heading in the direction of the San Bernardino Mts."
Gib Gas, Tom! Die 80er warten.
Waits No 8: Kaputte Fahrräder, tönende Glocken und Crystal Gayle
Mit "One from the heart" beginnt ein wichtiger Zug in Toms Arbeit: die Kollaboration mit anderen Künstlern, in der seine Musik in einen größeren Kontext gestellt wird. In den 1990ern wird dieser Teil seines Werks sogar für längere Zeit das Übergewicht gegenüber seinen Solo-Projekten gewinnen.
Die Platte ist der Soundtrack zu einem Film von Francis Ford Coppola. Sie erscheint erst 1982, eingespielt wurde die Musik aber bereits 1980, beinahe parallel zu den Aufnahmen für Toms Solo-Album "Heartattack and Vine", so dass es etwas schwer fällt, genau zu sagen, welche der beiden Platten nun die Vorgängerin der anderen ist. Am besten stellt man sie sich wohl wie zweieiige Zwillinge vor. Zum letzten Mal ist dabei Bones Howe der Produzent.
Mit dem Blues-Rock von "Heartattack and Vine" hat "One from the heart" allerdings wenig gemeinsam. Im ersten Moment könnte man meinen, Tom fällt hier in bereits überwundene Song-Muster aus den 70ern zurück. Viel Piano, viele Geigen, viel Sentiment. Allerdings ist aus der einstigen Barkapelle unterdessen ein ganzes Tanzorchester geworden, das mitunter die ganz große Sonnabend-Nacht Revue-Musik erklingen lässt. Dem Charakter eines Soundtracks entsprechend finden sich mehrere Instrumentals. In einem von ihm experimentiert Tom zum ersten Mal mit dem Tango, in einem zweiten wird das Glockenspiel erstmals zum zentralen Instrument - was in die nahe Zukunft voraus weist. Von den mit Lyrics unterlegten Songs wird die Mehrzahl von Tom im Duett mit Crystal Gayle oder auch von ihr allein gesungen. Was sich sehr schön anhört und um einiges stimmiger ist als sein letzter Duettversuch mit Bette Midler auf "Foreign Affairs".
Drei seiner allein gesungenen Songs möchte ich heraus heben. "Little Boy Blue" ist eine lässig in den Knien schlenkernde Cool-Jazz-Reminiszenz an die Tage von "Small Change". "Broken Bicycles" ist seine wohl traurigste Klavierballade überhaupt. Allein wegen der Songzeile: "Someone must have an orphanage for all this things nobody wants anymore" ist man als Waits-Fan eigentlich verpflichtet, diese Platte zu kaufen. Schließlich muss "You can't unring a bell" unbedingt erwähnt werden, ein dunkler, böser, gebrochener Song der auf den Zyniker der 1990er Jahre vorausdeutet.
"One from the heart" ist vielleicht kein Pflicht-Kauf. Ich mag die Platte aber gerade wegen ihrer Viel- und bisweilen auch Unstimmigkeit. Tom experimentiert hier bereits mit vielem, was Mitte der 1980er für Aufsehen sorgen wird. Wer sein Werk als Gesamtheit verstehen lernen will, der sollte diesen Soundtrack kaufen.
Waits No 9: Regenvögel und Schwertfischposaunen in der Nachbarschaft
1983, zehn Jahre nach seinem Debüt mit "Closing Time" und neun Alben später, hat Tom den künstlerischen Olymp erreicht. "Swordfishtrombones" wird in die Musikgeschichte eingehen. Die Platte wird eine der einflussreichsten Veröffentlichungen der 80er Jahre überhaupt, zahllose bedeutende Musiker des Jahrzehnts listen sie unter ihren Vorbildern auf. Es ist schwer, unter Toms Platten die eine, beste auszumachen. Wenn es aber darum geht, die monolithischste und für sein Werk wichtigste auszumachen, fällt die Wahl ganz eindeutig auf "Swordfishtrombones". Nie zuvor war er derartig radikal in seinen künstlerischen Mitteln. Und auch später wird er nur noch zweimal an diesen Punkt gelangen, mit "Black Rider" und mit "Bone Machine".
Um dieses Album rankt sich die Geschichte, dass sie ihm bei Asylum die Tür zeigten, als er mit den ersten Aufnahmen aufkreuzte. Der Schock war zu groß. Es hatte sich zwar auf den letzten Alben bereits angedeutet, dass Tom keine Lust mehr darauf hatte, den Bar-Piano-Beatnik zu geben. Aber mit etwas derartigem wussten sie bei der alten Plattenfirma einfach nicht umzugehen. Gut, dass Island Records grade vor der Tür stand.
Die fünfzehn Songs auf "Swordfishtrombones" sind durch die Bank krumm, windschief, bucklig. Es knirscht in den Gelenken. Toms wimmernde, heulende, bellende Stimme tut ihr übriges dazu. Und auch instrumentell tut sich so einiges. Die E-Gitarre tritt in den Hintergrund. Das Piano sowieso. Die Basslinien von Greg Cohen werden immer wichtiger. Und in die Songs schleicht sich die Schlagwerk- und Percussionsabteilung ein: Buschtrommel, Marimba, Konga, Snaredrum, ein Satz Weingläser, diverse Glocken. Unter anderem. Schließlich die immer wichtiger werdenden Bläser. Aber nicht mehr das alte Saxophon, sondern Trompeten und Posaunen. Das Mirakel dieser Songs ist nun, dass jeder einzelne trotz dieser Verschobenheit wunderschön ist.
Einzelne Lieder aus diesem Gesamtkunstwerk herausheben? Wo jedes ein in Stein gehauenes Heiligtum darstellt? Geht natürlich eigentlich nicht. Aber man hat selbstverständlich seine Lieblinge. Gleich die Eröffnung mit "Underground" und "Shore Leave" hintereinander ist großartig. Mein Lieblingsanfang einer Platte überhaupt. "In the neighbourhood" ist ein toller Gassenhauer, der mit einer kompletten Marching-Band die Hauptstraße hinunter zu kommen scheint. Und dann natürlich "Swordfishtrombones" selbst! Was für ein Song! Allein wegen der Bassline von Greg Cohen muss man diese Platte besitzen. Ganz zu schweigen von den unglaublich guten Lyrics. Das folgende "Down, down, down" leitet im letzten Drittel die härteren Gitarren-Nummern ein. "Soldiers Things" ist brillantes Texten in Verbindung mit melancholischster Instrumentierung. Und zum Ausklang gibt es mit "Rainbirds" Toms schönstes Instrumental seit "Closing Time", mit dem er vor zehn Jahren seinen Erstling ausklingen lies.
Was für einen weiten Weg wir seitdem zurückgelegt haben! Doch für dieses Etappen-Ziel hat sich jeder Schritt gelohnt. Übrigens auch für Tom privat: In den Credits von "Swordfishtrombones" dankt der frisch Verheiratete seiner Frau Kathleen. Und mit "Johnsburg, Illinois" hat er ihr gleich einen ewigen Treueschwur in Liebesliedform auf die Platte gebannt - denn da stammt sie her. Und natürlich ist auch dieses kleine Liedchen am Ende ein bisschen schief. Gerades machen die anderen zu Genüge.
Waits No 10: Regenhunde aus Singapur sind überall zuhause, wo sie schlafen
Zwei Jahre nach seinem triumphalen Einzug auf dem künstlerischen Olymp mit "Swordfishtrombones" hat sich Tom hier häuslich eingerichtet. Er denkt gar nicht daran, wieder zu gehen. Stattdessen schiebt er 1985 auf "Raindogs" neunzehn weitere Songs für die Ewigkeit nach.
Das Album ist in vielerlei Hinsicht eine Weiterführung seines Vorgängers. Und mit "Hang down your head" findet sich zum ersten Mal ein Song, den Tom mit seiner Frau Kathleen gemeinsam geschrieben und produziert hat - eine Konstellation, die sich von nun an immer häufiger einstellen wird. Musikalisch geht es auf "Raindogs" noch etwas bunter zu als bisher. Das liegt an der Rhythmus-Abteilung, die noch zentraler wird, sowie an der weiteren Verfeinerung des Gitarren-Spiels. Es finden sich in den Songs u.a. Anleihen bei Tango, Salza, Calypso, Blues, Rock’n’roll und Country.
Trotz aller Gemeinsamkeiten mit "Swordfishtrombones" gibt es aber einen deutlich spürbaren Unterschied: mehrere Songs von "Raindogs" sind um einiges gefälliger, zugänglicher und runder als beim Vorgänger. Vor allem bei den nun wieder stärker vertretenen Balladen finden sich echte Gassenhauer, die für Toms Verhältnisse Radio-kompatibel sind: "Hang down your head", "Time", "Blind Love" und "Downtown Train". Wunderschöne Songs mit tollen Texten die man jederzeit gerne hört. Aber an die künstlerische Unbedingtheit auf dem Vorgänger-Album reichen sie nicht heran.
Deswegen sind meine Lieblingssongs auf "Raindogs" auch die, die das noch können. Gleich der Opener "Singapore" ist ganz großartig, dunkel und böse, mit einem tollen Schlagzeug und einer irren Percussion-Abteilung. Auf "Jockey full of bourbon" slidet Toms E-Gitarre wie noch nie zuvor. "Tango till they're sore" hat eine wunderschöne Horn-Begleitung. "Raindogs" führt auf grandiose Weise das Akkordeon in Toms musikalische Welt ein. "9.TH & Hennepin" ist bitterböse betextet, ein gesprochener Song, in dem es im Hintergrund fiept, heult und wimmert - ein Vorgeschmack auf Toms Theater-Musik der 90er, Singende Säge inklusive. "Walking Spanish" verfügt über eine zum niederknien schöne Bass-Line und ist auch sonst ein herrlich beschwingt-cooler Song. Und "Anythere I lay my head" im Ausgang der Platte konterkariert die etwas zu schön und glatt geratenen Balladen von "Raindogs" mit dem gewissen Touch an Säuferorchester-Krummheit, den Toms wirklich gute Songs ausmachen.
Alles in allem gilt auch hier: Sie müssen nicht jede Platte von Tom besitzen (sollten es aber ...) "Rain Dogs" jedoch ist ein Pflichtkauf.
Waits No 11: Telefonanruf aus Istanbul für Frank, den Teufel im Loch
Wer dachte, Tom würde seinen mit "Rain Dogs" 1985 eingeschlagenen Weg zurück zu eingängigeren Melodien und wieder freundlicher daherkommenden Balladen fortsetzen, der sah sich zwei Jahre später eines Besseren belehrt.
Bei uns im Dorf gab es "die alte Hanka", die man eigentlich nur zu Gesicht bekam, wenn sie mit einem Beutel unterwegs in den Getränkestützpunkt war, um Schnaps zu holen. Sie roch ziemlich streng, war eigentlich immer betrunken und sprach in häufig unverständlichen Lauten. Wir hatten als Kinder natürlich Angst vor ihr - und waren gleichzeitig fasziniert. "Franks wild years" von 1987 ist wie Hanka.
Die Platte basiert auf einem Bühnenprojekt von 1986, das Tom als "Un Operachi Romantico in two acts" in Chicago zur Aufführung brachte. Er selbst spielte die Hauptrolle des Frank, ein Faktotum, das auf "Swordfishtrombones" seine Geburt erlebte. Frank will weg aus seinem Kleinstadt-Kaff, fort in die große Stadt. Er scheitert und kehrt am Ende des Stückes und der Platte gebrochen zurück. Was bleibt, sind Träume.
Tom zieht es aus dem Studio auf die Bühne, hin zu neuen Formen (1986 ist auch der Beginn seiner Schauspiel-Karriere mit der Rolle eines DJ's in Jim Jarmuschs "Down by Law"). "Franks wild years" ist ein Konzeptalbum, seine siebzehn Songs erzählen eine fortlaufende Geschichte. Musikalisch setzt er den Weg der beiden Vorgänger fort, wobei er deutlicher an die Gebrochenheit von "Swordfishtrombones" anknüpft als an die Eingängigkeit von "Rain Dogs". Es rumpelt, knirscht und wimmert stärker denn je in seinen Songs, die ein ums andere mal für Momente schlicht schief klingen, die mit der Dissonanz kokettieren. Das wirkt hin und wieder etwas "over the top", etwas zu absichtsvoll-planerisch provokant. Tom ist hier auf der Suche nach der musikalischen Sprache seiner kommenden Theater-Alben. Etwas möchte sich Ausdruck verschaffen, gelangt aber noch nicht ganz zur Abrundung.
Das gilt auch für seine Stimme, die hier ganz neue Grade der Schiefheit und des fiependen Gekrächz erreicht. Hinzu kommt, dass er das Megafon für sich entdeckt hat - sodass ein Großteil der Lieder gesanglich dumpf klingt, als ob er unter einem Laken hervor oder durch den Hörer eines Telefons zu uns singt. "Temptation" ist in dieser Hinsicht sicherlich der aufregendste Song der Platte. Gefolgt von "I'll be gone" in das sich immer wieder ein krähender Hahn einmischt. Herkömmlichen Ansprüchen von Schönheit verwehren sich diese Songs. Was gut ist. Trotzdem hat man immer wieder das Gefühl, sie wären mit etwas weniger Sorgfalt bei ihrer De-Harmonisierung schlicht besser. Man spürt, dass hier sehr viel Perfektionismus bei der Erzeugung des Nicht-Perfektionistischen am Werk war. Das bringt leider "Franks wild years" in weiten Teilen eine gewisse Künstlichkeit ein.
Ein paar Songs ragen für mich qualitativ heraus: "Yesterday is here" ist toll gesungen und entwickelt mit Toms Western-Gitarre ganz viel Atmosphäre. "Way down in the hole" wird getragen von einem groovenden Gospel-Shuffle. Als Prediger ist Tom unschlagbar. "Telephone Call from Istanbul" hat eine bemerkenswerte Banjo-Begleitung. "Cold cold ground" ist der dramatischste Song, echte Seelenpein trifft auf ein wunderbares Akkordeon. Und der "Train Song" mit seinem traurigen Horn ist unter den vielen Eisenbahn-Songs von Tom mit Abstand der herzzerreißenste. Großes Wehmuts-Kino!
Frank scheitert im Lauf der Platte. Für Tom und uns als Fans ist sie ein Aufbruch in neue Song-Welten. Tom hat offensichtlich wieder die Unruhe gepackt. In welcher Form wird der Phönix sich dieses Mal zeigen, nachdem er hinter sich alles in Flammen gesteckt hat?
Waits No 12: Frank, Regenhunde und Schwertfischposaunen haben eine große Zeit
1988 veröffentlicht Tom nach fünfzehn Jahre sein zweites Live-Album. "Big Time" ist eine wunderbare Werkschau seiner 80er Jahre-Phase. Zwei der achtzehn Songs sind Ausflüge in die Spätzeit bei Asylum Records. Und mit "Falling Down" und "Strange Weather" gibt es noch zwei sehr hörenswerte Neu-Einspielungen. Wer keine Lust darauf hat, "Swordfishtrombones", "Rain Dogs" und "Franks wild years" zu kaufen (was irgendwie schwer nachvollziehbar ist) findet hier einen Überblick, der auch gut als Einstieg in die Phase von Toms Werk dienen kann, die einige bis heute als seine beste empfinden.
Natürlich ist auch "Big Time" keine ganz normale Platte. Tom zog es ja schon mit "Franks wild years" auf die Bühne. "Big Time" setzt das nun fort - denn eigentlich ist die Platte der Soundtrack zu einem Konzert- und Musikfilm gleichen Namens, in dem einige wunderliche Dinge passieren. Der Film blieb mir als eine Art überlanges surreales MTV-Video mit kurzen Spielszenen in Erinnerung. Heute nur noch schwer zu bekommen und für Sammler kaum in Gold aufzuwiegen.
Die Live-Mitschnitte der Platte entstanden in Los Angeles, San Francisco, Dublin, Stockholm und Berlin. Die Aufnahmequalität schwankt und ist manchmal nicht ganz befriedigend, da die Band und Tom mitunter merkwürdig weit entfernt klingen - so als hätte die Aufnahme aus der letzten Reihe des Saales stattgefunden. Man hört sich aber schnell rein, zumal die Songs durch die Bank dafür entschädigen. Tom singt hier nicht einfach nur die Essentials der letzten zehn Jahre ab - vielfach handelt es sich um Neuinterpretationen. Vor allem die Songs von "Franks wild years" gewinnen hier eindeutig an Intensität, da sie direkter klingen als auf Toms erstem "Kunstalbum". Schließlich gibt es als Zugabe Kostproben von Toms Qualitäten als Erzähler wunderlicher Geschichten und Moritaten. Und wie er im Mittelteil von "Way down in the hole" über den Herrn zu predigen beginnt - "The Lord is a very, very busy man" - ist sowieso für die Ewigkeit.
Mit "Time" entlässt er uns am Schluss denkbar passend und extrem emotional in die Welt. Wir hatten eine große Zeit zusammen. Mal wieder ist ein Abschluss gemacht. Die 80er gehen zu Ende. Beim nächsten Mal ist alles anders.
Waits No 13: Der schwarze Reiter tanzt russisch in seinen Knochen herum
Tom beginnt seine dritte Schaffensdekade 1990 am Thalia-Theater in Hamburg. Robert Wilson adaptiert hier den Freischütz-Stoff, William Burroughs, der große alte Mann der amerikanischen Beatnikbewegung steuert doppelbödig-dunkle Texte über Drogenmissbrauch und seine Folgen bei - und Tom der Teufel macht dazu die Musik. Die Welt ist im Umbruch - und der schwarze Reiter macht nachts an den Wegkreuzungen im Wald glänzende Geschäfte.
"The black rider" erschien erst 1993 auf Platte. Vielleicht brauchte es ja zunächst den Erfolg von "Bone machine", damit Island Records den Mut fasste, diese Songs auf die Menschheit los zu lassen. Damit wird "The black rider" zu Toms letzter Veröffentlichung bei seinem zweiten Label, obwohl sein Inhalt gute zwei Jahre älter ist als die Vorgängerplatte. Aus diesem Grund habe ich mich dazu entschlossen, "The black rider" an den Anfang der 1990er zu stellen. "Bone machine" von 1992 ist eine Weiterentwicklung des hier eingeschlagenen Wegs und gehört daher in der Reihe weiter nach hinten.
"You know my number - 3927704 - call any time". Auf "I'll shoot the moon" fordert uns Tom dazu auf, doch einmal anzurufen. Wer könnte da widerstehen - selbst wenn auf der anderen Seite der Gehörnte den Hörer abnimmt. Denn niemand anderes ist es, der uns hier in der "Lucky Day Overture" in "Harry's Harbour Bizarre" seine Freaks vorführt, der in "The black rider" lockt und in "Just the right bullets" den Dealer mimt.
Das ganze Album ist eine Monstrosität. Es ist bis in seine kleinsten Winkel hinein theatralisch maßlos überzogen. Hier finden sich mit "Gospel Train" und "Oily night" Toms brutalste Songs. Greg Cohen ist zum letzten Mal mit von der Partie und hinterlässt einige derart schief-bucklige Instrumentals, dass man nur mit offenem Mund staunend daneben stehen kann. Auf "November" heult die singende Säge wie nie zuvor, im "Russian Dance" stampfen Leute in schweren Stiefeln den Beat und Tom zählt Russisch dazu den Takt ein. Zugpfeifen heulen, echte Krähen krächzen über dem Himmel der Songs, in "Flash pan hunter" heult Tom wie ein geprügelter und hungriger Hund, dass es einem das Herz zusammen krampft. "Crossroads" ist für mich musikalisch der Höhepunkt der Platte, ein dunkler, böser, lauernder Song, unheilsschwanger und tragisch. Und "That's the way" muss man gehört haben, mit der alten brüchigen Stimme von William Burroughs beim Vortrag eines bodenlos-traurigen, weltverlorenen Gedichts, unterlegt von Toms melancholisch wimmernder Theater-Musik.
Mit "The black rider" befinden wir uns tatsächlich an einer Wegkreuzung. Einigen alten Fans geht die Richtung, die Tom mit seinem Weg zum Theater musikalisch hier einschlägt, zu weit. Es gibt Stimmen, die rückblickend meinen, mit seiner Kollaboration mit Robert Wilson habe er sich verrannt, das ganze sei ein Irrweg über den man besser den Mantel des Schweigens deckt. Zu extrem, zu artifiziell.
Ich mag mich da nicht festlegen. Ich kann nur eins sagen: "The black rider" hat mich noch jedes Mal in seinen finsteren Bann ziehen können. Diese Platte ist ein akustischer Snuff-Film, sie ist Toms Version von Death Metal. Oder, um ihn selbst vom Live-Vorgänger "Big Time" zu zitieren: "Not for everyone. Whose, who love action maybe."
Waits No 14: Variationen von der anderen Seite der guten alten Welt
1991 veröffentlicht Tom zum zweiten Mal in seiner Karriere einen Soundtrack. Doch anders als 1980 bei "One from the heart" ist es diesmal im Fall des "Taxi-Fahrer" Episoden-Films seines alten Freundes Jim Jarmusch ein sehr klassischer Vertreter seiner Zunft. Will heißen: Variationen im Hintergrund. Wenige Themen erfahren eine immer neue, leicht verschiedene Interpretation. Ein Album für Hinhörer also.
Genau genommen sind es ganze drei Themen: "Back in the good old world", zu welchem es auch Lyrics gibt. "On the other side of the world", eine traurig-verträumte Ballade mit einer Liebeserklärung an seine Frau Kathleen und nicht nur deswegen sicher das Highlight der Platte. Und schließlich die diversen "Mood"-Soundlandschaften zu den verschiedenen Städten des Films, die von einer dunkel-pochenden, treibenden Bass-Melodie, einem Cello und hin und wieder einer Trompete oder einer E-Gitarre dominiert werden und zu denen man das nächtliche Aufleuchten des Mittelstreifens im Scheinwerferlicht des Wagens imaginieren kann. Und dann gibt es noch "Dragging a Dead Priest", das komplett wie die Soundscape eines aufgelassenen Fabrikgeländes daherkommt. Das war's.
Dafür so viel Geld ausgeben? Tja, bei "Night on Earth" scheiden sich sicherlich die Geister. Die Platte gibt es nur noch antiquarisch. Ich habe sie noch erworben, als ihr Preis sich in herkömmlichen Regionen bewegte. Eine Neuauflage ist bis auf weiteres nicht in Sicht - inzwischen kostet der Soundtrack soviel wie die gesamten 80er Jahre von Tom zusammen. Eine Sammler-Sache also. Eine CD, die man aus dem Regal holt, um unter Kennern ein bisschen mit der Zunge zu schnalzen. Sicher kein Muss. Aber eine Platte, die ich nicht missen möchte. Man hört sich in sie hinein, vor allem an grauen Novembertagen. Sie gewinnt bei jedem Durchlauf an Nuancen. Und sie wirkt wie ein tiefes Luft-Holen vor dem, was als Nächstes auf einen wartet. "Night on earth" ist die Ruhe vor dem Sturm.
Waits No 15: Jesus mit den schwarzen Flügeln, wer bist du dieses Mal?
1992, mit fünfzehn Jahren, lieh ich mir aus Neugier "Bone machine" in unserer Kreisstadt-Musikbibliothek aus. Ich kannte Tom bisher nur von der Kompilation "Asylum years", die Bekannte auf Platte hatten und die ich mir auf Kassette überspielt hatte, weil ich die Melancholie der Lieder mochte - Pubertät und so. Die nächsten Tage verbrachte ich damit, den Schock zu verwinden, in den mich das Hören von "Bone machine" stürzte - und mich dabei zu beobachten, wie er sich allmählich in faszinierte Bewunderung transformierte. Ich glaube heute rückblickend sagen zu können, dass "Bone machine" mehr zu meiner Erwachsenwerdung beigetragen hat, als das damals von mir natürlich genauso heftig bewunderte Schaffen von Henry Rollins, Kurt Cobain, Trent Reznor und Mike Patton zusammen. Was einer gewissen Ironie nicht entbehrt, findet sich doch auf dem Album ein Lied über die Weigerung, erwachsen zu werden. Mit seiner fünfzehnten Scheibe hat Tom in der Zeit, in der "Alternative" der Mainstream war, dieser musikalischen Bewegung die Krone aufgesetzt. Alternativer als "Bone machine" sollte hier nichts mehr werden.
Toms erstes reines Studioalbum seit "Rain Dogs" 1985 ist für mich der Höhepunkt seines Gesamtwerks. "Bone machine" ist aus meiner persönlichen Sicht das Beste, was er gemacht hat. Trotzdem ist nicht davon auszugehen, dass diese Platte jedem Fan seiner Musik gefallen wird. Denn sie ist gleichzeitig neben "Swordfishtrombones" und "The black rider" seine gebrochenste, musikalisch avantgardistischste, unzugänglichste Arbeit. "Bone machine" muss man erst mal verdauen. Und nicht jedem Magen wird das gelingen. Dieses Album ist eine Orgie. Und Orgien sind nun mal nicht jedermanns Sache.
Stilistisch knüpft er hier an seine Songs von "The black rider" an. Wieder ist seine Percussion-Gruppe, die "Boners", mit von der Partie und es scheppert, klopft, pocht und rüttelt im Bodensatz der Lieder herum, als ob ein schwer beladener Altmetall-LKW über eine Klippe in einen Abgrund stürzt und dort zerschellt. Seine Stimme ist verzerrter denn je und klingt an einigen Stellen nicht mehr wie ein menschliches Organ, sondern wie etwas Beängstigendes aus einer anderen Dimension. Trotzdem sind die "Bone machine"-Songs für mich besser als die Theater-Lieder von "The black rider". Das liegt zum einen daran, dass Tom hier den durchaus vorhandenen Balladen ihre ruhige Strahlkraft belässt und sie nicht über die Gebühr verfremdet. Und es liegt an der sagenhaften Gitarrenarbeit von Joe Gore und den Künsten von Larry Taylor am Kontrabass. Die beiden geben Toms Eskapaden ein brutal-schwingendes Grundgerüst, das nur als kongenial zu bezeichnen ist. Musikalisch ist "Bone machine" ein verquerer Hochgenuss, echte, ergreifende Kunst. Mit "Black Wings" schafft Tom dabei für mich den Höhepunkt seines Schaffens. Dürfte ich fortan nur noch eines seiner Lieder hören - dieser Gänsehaut erzeugende, düstere Song wäre aus über vierzig Jahren meine Wahl.
Inhaltlich bleibt noch der Hinweis darauf, dass Tom sich 1992 auf "Bone machine" dem Landleben zuwendet. Er ist zwei Jahre zuvor mit seiner Familie aus L.A. in die kalifornische Steppe gezogen. Der Stadtwanderer hat sich nach zwei Jahrzehnten satt gesehen. Die neuen Geschichten findet er auf dem Dorf, hinter den Hausfassaden der Farmen, in der weiten Ödnis der Landschaft. Diese Songs schmecken nach dem Wetter, nach der Erde. Grausig geht es auch hier draußen zu. Mord und Totschlag überall, das Böse lauert und der Prediger schreit und warnt. Tom nähert sich allmählich Formen des Gospel an - nur das in seiner Welt kein Gott mehr existiert. Oder man ihm lieber nicht begegnen möchte.
"Hell is boiling over and heaven is full, we're chained to the world and we all gotta pull." Danke, Tom, dass du uns hierher gezogen hast. Es ist hier böse, düster und gemein - und wir mögen das. Aber lass uns bitte hier nicht allein zurück.
Waits No 16: Alice und der arme Edward kommen nie zu spät
"Alice" ist Toms zweite Kollaboration mit Theaterregisseur Robert Wilson - und wie bereits beim "Black rider" findet die Prämiere des Stückes am Hamburger Thalia statt, im Dezember 1992. Tom hat damit innerhalb von zwei Jahren zwei Theaterstücke musikalisch begleitet, einen Soundtrack geschrieben und mit "Bone machine" sein vielleicht bestes Studio-Album überhaupt publiziert. Dieses kleine Zeitfenster um das Jahr 1990 herum stellt damit seine intensivste Schaffensperiode dar. "Alice" steht an ihrem Ende - und das hört man der Musik an. Die ganze Platte wirkt wie das erschöpfte Ausatmen nach einem langen, intensiven Arbeitstag. Aber selbst so ein Ausatmen gerät bei Tom zu einem hörenswerten Ereignis.
Die Lieder von "Alice" sind erst 2002 bei Toms dritten Label Epitaph veröffentlicht worden. Zehn Jahre lang gab es sie nur auf dubiosen Schwarz-Pressungen, merkwürdigen B-Seiten und ähnlichem zu ergattern - zu Fantasiepreisen jenseits jeglicher Vernunft. Nun sind sie endlich friedlich miteinander vereint. Und friedlich ist ein Wort, das die Stimmung des Albums ganz gut beschreibt. Der Kontrast zum beinahe gleichzeitig eingespielten "Bone machine" könnte nicht größer sein.
Es gibt auf "Alice" im Grunde gar keine Gitarren mehr. Toms seit "Franks wild years" in Formung begriffliche Jahrmarkt-Musik für die Bühne erreicht hier ihren Höhepunkt. Statt mit schmutzigen Gitarrensounds zu spielen, kehrt er für weite Strecken der ganz überwiegend ruhigen, balladenhaften Songs sogar ans Piano zurück. Und selbst die wenigen schnelleren, aggressiveren Nummern bauen ganz auf seine Varieté-Instrumentalisierung aus diversem Schlagwerk, Blasebalg-Betriebenem und schluchzenden Streichern. Nie war Tom weiter vom Rock seiner 80er Jahre-Phase entfernt als hier.
Ich mag "Alice" trotzdem. Es finden sich hier Balladen von einer Traurigkeit, die selbst Tom nur selten erreicht hat. "No one knows I'm gone", "Lost in the harbour", "I'm still here". Bei "Fish & Bird" muss ich bis heute jedes Mal heulen. "Alice" sollte man nicht in die Hände von verzweifelten Menschen geben, sie könnten sich nach dem Hören etwas antun. Definitiv keine Platte für Liebeskummer in seiner akuten, gesundheitsgefährdenden Phase. Da hilft auch "Poor Edward" nicht, mit seiner gemeinen Geschichte von besagtem Edward, der auf seinem Kopf ein zweites Gesicht hatte, das ihn in seiner Boshaftigkeit in den Tod trieb. Und auch nicht "Kommienezuspadt" in dem Tom zum ersten und einzigen Mal in seiner Laufbahn teilweise deutsch singt. Wobei dann sein "Sei pünktlich!" jedes Mal klingt wie "Sei bucklig!" Doch diese kurzen Momente des Humors werden stets wieder in die allgegenwärtige Traurigkeit zurückgeholt. Und mit dem Violineninstrumental "Fawn" zum Ausklang geht es auf todtraurigste Art und Weise nach Hause, zurück vor den Spiegel.
Ob Tom, das alte Maultier, noch mal wiederkommt?
Waits No 17: Halte aus, Pony, ich nehme dich mit!
Willkommen zu Toms Spätwerk. Sieben lange Jahre hat er sich nach "Alice" Zeit gelassen. Er hat hier und dort bei einem Soundtrack etwas beigesteuert. Dieses und jenes kleine Projekt. Auf "Orphans" von 2006 finden sich die verstreuten Songs dieser großen Pause. Ansonsten hat er auf dem kalifornischen Land gemeinsam mit Kathleen ihren drei gemeinsamen Kindern beim Wachsen zugeschaut. 1999 kommt er nun mit "Mule Variations" bei seinem neuen Label Epitaph aus dem langen, wohlverdienten Urlaub zurück.
"Mule Variations" ist ein Folk-Album, es ist Toms Mundharmonika-Aufnahme. Es ist eine Dorf-Platte und es gibt die Geschichte, dass sie die Songs in Toms Schuppen eingespielt haben. Und auf "Chocolate Jesus" hat sich sogar ein Hahn mit in die Aufnahme geschmuggelt. Der kräht da einfach so rum. Tom geht hier weit zurück an die Wurzeln der amerikanischen Musik, zum Blues, zum Gospel, zum Spiritual. Mitunter klingt die gedämpft abgemischte Musik von "Mule Variations" wie eine alte, verstaubte Platte, die man auf einem Winkel des Dachbodens unter Opas alten Sachen gefunden hat.
Die Lieder dieser Platte handeln von den Tramps der Landstraße, und sie sind voll mit merkwürdigen Liebeserklärungen an Frauen, Tiere und Jesus. "What's he building?" ist eine wunderbar beobachtete Skizze dörflicher Neugierde. "Eyeball Kid" reiht sich ein in die inzwischen schon beträchtliche Reihe von Toms Songs über Freaks. Das hymnische "Come on up to the house" im Ausgang enthält einen weiteren gotteslästerlichen Bonmot, wie nur Tom ihn sich ausdenken kann ("Come down off the cross, we can use the wood"). Usw. Es gibt her wirklich viel zu entdecken.
Die erstaunlichste Entdeckung ist dabei womöglich Tom selbst. Er ruht hörbar in sich. Vor allem die leisen Balladen sind erfüllt von einer warmen Herbstsonne. "Picture in a frame" und "Take it with me" sind die Lieder eines Mannes, der angekommen ist. Tom beginnt hier tatsächlich für seine Verhältnisse etwas wie Altersmilde auszustrahlen. Auf keiner seiner Platten war er jemals so laidback wie hier.
"Mule Variations" überrennt einen daher nicht gleich beim ersten Mal, es stößt einen nicht vor den Kopf, wie wir das mittlerweile von Tom gewohnt sind. Aber es gewinnt mit jedem weiteren Hören an Tiefe, Wärme und Menschlichkeit.
Der alte Kater liegt zufrieden schnurrend in der Oktobersonne, lüftet das Fell, wärmt die müden Knochen und lässt die Narben heilen. Legen Sie sich doch ein bisschen dazu. "Mule Variations" nimmt dem älter werden den Schrecken. Für einen kurzen, ewigen Moment.
Waits No 18: Marie und der Goldene Willi auf dem sinkenden Schiff
"If there's one thing you can say about mankind, there's nothing kind about man." Tja. Da hatte man 1999 mit "Mule Variations" einen sanftmütiger werdenden Tom kennen gelernt, der in ländlicher Abgeschiedenheit seinen Frieden zu finden scheint. Und drei Jahre später veröffentlicht derselbe Kerl 2002 mit "Blood Money" eine Platte voll des triefendsten Zynismus. Wir sind zu Beginn des neuen Jahrtausends im unterdessen vierten Jahrzehnt unserer gemeinsamen Reise nun schließlich zur schwarzen, bösen Seite von Tom gelangt. Immer wieder hatte er mal kurze Blicke auf sie gewährt. Hier lässt er nun gar kein Licht mehr zu uns herein, dreht uns zweimal im Kreis, schleicht hinaus und verschließt böse lachend (am Ausgang von "Calliope" macht er das tatsächlich) von außen die Tür. Wir sind allein gelassen. Gott ist geschäftlich verreist. Alles geht zur Hölle, das Schiff sinkt und wir hungern im Bauch eines Walfisches.
Das liegt natürlich auch am Stoff. "Blood Money" ist Toms drittes und letztes Theater-Album für eine Robert Wilson - Inszenierung. Diesmal ist es Büchners "Woyzeck", der im November 2000 in Kopenhagen seine Premiere erlebte. Bekanntlich kein Wohlfühl-Stück. Die Bodenlosigkeit und trostlose Ausgeliefertheit von Büchners Figuren übersetzt Tom eins zu eins in die Texte seiner Songs. Es gibt hier keine Hoffnung, auch in den balladenhaften Liebesliedern nicht, die von schwermütiger Wehmut und dunklen Vorahnungen durchweht werden. Auf "Blood Money" finden sich womöglich einige seiner brillantesten Lyrics. Aber sie sind allesamt dunkel und mitunter noch dazu böse.
Musikalisch bringt er seine für die Bühne über ein Jahrzehnt hinweg entwickelte typische Varieté-Orchestrierung auf "Blood Money" zu einer gelungenen Abrundung, die allerdings auch deutlich macht, dass hier stilistisch etwas zu Ende erzählt ist. Von ihrer Formensprache her ist diese Platte ein spätes Kind seiner frühen 1990er Phase, ein gelungenes, volltönendes Echo des "Black Rider", ohne aber dessen künstlerische Unbedingtheit noch einmal zu erreichen. Ein Abschluss.
"Starving in the belly of a whale" ist dabei besonders interessant. Denn hier deutet sich an, dass Tom immer noch der Rock in den Fingern zu stecken scheint.
Geht da noch was?
Waits No 19: Lass es regnen über den Sünden des Vaters - aber geh nicht in die Scheune
Wahnsinn! Grandios! Wer hätte das gedacht! 2004 gelingt Tom mit "Real Gone" nichts weniger als ein Wunder. Jetzt kann ich es ja sagen: am allerbesten fand ich ihn immer in Begleitung von Gitarren. Selbst der Klavier-Balladen-Tom der 1970er konnte mich nie so in Begeisterung versetzen, wie es zuletzt dem Gitarren-Tom von "Bone Machine" 1992 gelang, bevor er für das restliche Jahrzehnt Varieté-Musik fürs Theater machte. Mit "Mule Variations" hatte er 1999 bereits eine Abkehr angedeutet. Fünf Jahre später ist sie vollzogen. "Real Gone" ist in meinen Augen das Beste, was Tom seit den frühen 1990er gemacht hat. Ein Gitarren-Album!
An dieser Stelle muss der Name von Marc Ribot fallen, der hier in so gut wie jedem Stück die Seiten von E-Gitarren und Banjos auf vielfältigste Art und Weise zupft. Mal vibrierend, wie in "Make it rain", mal scheppernd wie in "Trampled Rose" oder dramatisch reduziert in "Hows it gonna end". Selbst ein reinrassiges Bluesrock-Solo findet sich in "Make it rain".
Eine weitere Erwähnung muss die Percussion-Arbeit auf "Real Gone" finden, die diesmal in Brain einem der weltweit Besten der Zunft übertragen ist und selbst im Rahmen von Toms langjährigem Schaffen in diesem Bereich absolut bemerkenswert ist. Verstärkung erhält Tom in der Rhytmus-Abteilung ausserdem durch seinen Sohn Casey, der immer wieder das Schlagzeug übernimmt und auf "Top of the hill" und "Metropolitan Glide" den Vater erstmalig mit Turntables begleitet.
Schließlich ist Tom selbst zu nennen. Was er auf "Real Gone" mit seiner Stimme macht, ist unglaublich. Zwischen Human-Beat-Box und Rap auf der einen, sowie sanft-gebrochenem Altmänner-Gesang und klagendem Blues-Geheul auf der anderen Seite ist alles dabei. Ein Ereignis.
Jedes der 16 Stücke ist ein Erlebnis, eine Entdeckungsreise ins Ungewisse, eine brachiale Erfahrung. Trauer, Wut, Verzweiflung, Zorn, Angst, Liebe - alles was die menschliche Emotionslandschaft an extremen Gefühlen zu bieten hat ist hier vertreten. Es fällt mir schwer, einzelnes heraus zu heben. Aber "Hoist that rag" sei hier genannt, "Sins of the father", das sehr minimalistische und doch so unglaublich gänsehauterzeugende "How's it gonna end", das sanft-verklingende "Green Grass", das stampfende "Make it rain" und "Day after tomorrow", Toms erstes Anti-Kriegslied in einem Bush-Amerika im weltweiten Antiterrorkrieg.
Ich hatte mich im Stillen damit abgefunden, dass der Tom von "Bone Machine" Lebewohl gesagt hat. Aber hier ist er wieder. Reifer, mehr in sich ruhend - aber dafür mit einer Urgewalt als wären all die achtzehn Platten zuvor nur ein Warmlaufen für diesen Moment gewesen. Tom hat die Jahrtausend-Schwelle genommen als wäre sie nichts. Wie viele der alten Helden können das ernsthaft von sich behaupten?
Waits No 20: Krakeler, Heuler und Bastarde aus dem Waisenhaus
Mehr als dreißig Jahre Musiker-Karriere. Neunzehn Alben. Da kommt was zusammen. Und da fallen über die Jahre so einige Krümel vom Küchentisch. Für seine zwanzigste Platte hat Tom den Besen genommen und mal zusammengekehrt. Herausgekommen ist "Orphans". Eine Song-Resterampe, verteilt über 3 Disks, in Buchform gebunden und mit Fotos aus den zurückliegenden Jahren aufs edelste umrahmt (an dieser Stelle muss man einmal lobend erwähnen, dass sich Anti Records mit Toms CD's seit "Mule Variations" wirklich viel Mühe gibt - so bekommt man die Leute auch im Zeitalter des MP3-Downloads noch zum Kauf von Retail-Alben). Über drei Stunden Musik (und ähnliches), verteilt auf 56 Tracks. "Orphans" ist eine Maßlosigkeit. Und sie muss jeden Musikschaffenden deprimieren. Was Tom hier über die Jahre hat liegen lassen oder auf Soundtracks und Tribut-Alben für die beinharten Sammler verteilte - dafür würden andere töten oder ihre Seele dem Teufel versprechen.
Auf diesen drei Alben findet sich ein Querschnitt von Toms musikalischer Entwicklung seit Mitte der 1980er Jahre. Rock'n'roll, Blues, Gospel, Marching-Band-Song, Walzer, Spiritual, Varieté-Musik, Human Beat Boxing, Soundscapes. Und in ein, zwei Liedern sogar noch ein Nachhall des Piano- und Saxophon-Jazz der 1970er. Thematisch berühren die Songs Toms gesamtes lyrisches Universum: Eisenbahnromantik, Trampverlorenheit, Gotteslästerung und -verehrung, Freaks, Liebe, Tod und Teufel. Obendrein begegnet man in den vielfach für die Platte neu eingespielten Songs alten Weggefährten: Marc Ribot, Larry Taylor, Joe Gore, Greg Cohen.
Aufgeteilt hat er das Ganze in drei Abteilungen. "Brawlers" widmet sich der Gitarre und dem Blues und Rock in seinem Schaffen. "Bawlers" wird alle Freunde des balladesken Tom auf ewig in Huldigungsstarre versetzen, denn hier kommt die Melancholie ganz zu ihrem Recht und mit ihr Piano, Violine und Horn. "Bastards" schließlich richtet den Fokus auf das experimentelle Element seines Werks, auf die Theater-Musik, den Hip Hop, das Hörspiel und die Soundscape.
Dinge herausheben? Oh je. Wie soll man das anstellen? Obwohl sich hier die B-Seiten versammelt haben, ist so viel Erstklassiges darunter, so viel Einmaliges und zum Teil für das Gesamtverständnis seines Werkes Essenzielles, dass mir das äußerst schwer fällt. "Lucinda" muss erwähnt werden, mit seinem Erzähler William the pleaser. "Little drop of poison" mit der grandiosen Songzeile: "Did the devil make the world while Good was sleeping?". "Fannin Street", das soviel über Toms Neigung für die dunkle Seite der Stadt verrät. "Down there by the train", "Never let go", "All the time", "Sea of Love" - ach, wer will die Wunder alle nennen? Und da ist man ja noch gar nicht bei den Bastarden gewesen, Toms Adaptionen von Stoffen aus der Feder Brecht und Weills, Büchners, Bukowskis und natürlich Kerouacs. "Home I'll never be" wird nie vergessen, wer es einmal gehört hat. Ganz zu schweigen von Toms "King Kong"-Erzählung.
"Orphans" ist ein Geschenk an die Fans. Es ist sicherlich nicht das geeignete Einstiegsalbum für jemanden, der sich mit Toms Schaffen vertraut machen will. Das hier ist für die Eingeweihten, die sich zum Ritual des inneren Zirkels versammeln. "Orphans" ist wie ein uralter, schwerer Wein, dem man den sonnendurchglühten Sommer eines lange zurückliegenden Jahres nachschmeckt. Einmal geöffnet, hängt sein schwerer Duft über allem, berauscht er uns die Sinne, nimmt uns ganz gefangen und lässt uns nicht wieder los. Nie wieder. Es sind nicht wir, die diese Platte hören. Diese Platte hört uns.
Vielleicht hat Tom ja doch einen Deal mit dem Gehörnten.
Waits No 21: Eines schönen Tages bin ich wieder zurück
Einundzwanzig Jahre nach "Big Time" nimmt Tom im Jahr 2009 das dritte Livealbum seiner langen Karriere auf. Man merkt schon - Tom geht nicht oft auf Tournee. Einmal im Jahrzehnt, wenn es hochkommt. Ein paar Gigs in Europa, ein paar Gigs in den Staaten. Und das war es dann wieder bis zum nächsten Dezennium. Karten für diese raren Besuche zu ergattern, ist fast aussichtslos. Die Tourdaten werden gehandelt wie die Geheimcodes für die Zündung der US-amerikanischen Nukes. Einmal in der Welt, sind die Karten in wenigen Minuten veräußert - egal zu welchem Preis.
Mir ist es in meinem Leben bisher einmal gelungen, in den erlauchten Kreis vorzudringen. 16.7.1999, 20:30 Uhr Metropol-Theater in der Berliner Friedrichstraße. Die "Get behind the mule-Tour". Ich war Student, die Karte kostete 126,50 DM. Ich hätte auch das Doppelte bezahlt. Man kann auf Essen eine ganze Weile verzichten. Wir verbrachten die zwei Stunden beim Meister in andächtiger Duldungsstarre auf unseren Knien. Hinterher drückte ich mich in Erwartung von weiß der Teufel was noch stundenlang am Backstage-Ausgang herum, wie ein pubertierendes Mädchen nach dem Boygroup-Konzert. Erfolglos. Für dieses Leben war es das. So nah komme ich ihm nie wieder.
Für all die weniger Glücklichen gibt es jetzt "Glitter and Doom". 17 Songs, ein paar versteckte Bonustracks. Und auf der zweiten CD (im einmal mehr wunderschön gestalteten Booklet - sehr prachtvolle Fotos!) eine Auswahl der absurden kleinen Geschichten, die Tom auf der Bühne so zu erzählen pflegt. Die Liste der Lieder umfasst die Alben bei Anti und die zweite Phase bei Island-Records. Als kleines Augenzwinkern für Kenner gibt es unter den Songs auch eine Wiederaufnahme von "Falling Down", das sich lediglich auf dem letzten Live-Album "Big Time" findet. Ansonsten lässt sich berichten, dass Tom unterdessen seinen Sohn Casey zum festen Schlagzeuger ernannt hat. Und auch dessen jüngerer Bruder Sullivan bekommt am Saxophon einige Auftritte. Mit Blick auf die Songs finde ich persönlich die sehr emotionale Variation von "Fannin Street" und die ungeheuer atmosphärische Sprechperformance in "Live Circus" besonders erwähnenswert. Und am Ende sitzt er in "Lucky Day" sogar am Piano!
Auf "Glitter and Doom" überwiegt insgesamt Toms stampfender Blues der nach 2000er Jahre, zu dem er seine Predigten vorträgt, bellt, heult und krächzt. Harmonisch und leiser wird es nur selten und für meinen Geschmack könnte es insgesamt auch etwas beschwingter und rockiger zugehen. Trotzdem ist "Glitter and Doom" ein gutes Live-Album, denn hier wird nicht einfach nur eine Auswahl bekannter Stücke vor Publikum zum Besten begeben, das man nach den einzelnen Nummern begeistert aufbrausen hört. Die hier versammelten Lieder sind vielmehr oft hörenswerte Neu- und Uminterpretationen. Und das Publikum ist auch während der Stücke präsent. Von seinen insgesamt drei Live-Alben ist "Glitter and Doom" daher das in sich stimmigste und atmosphärischste und sollte in keiner guten Musik-Sammlung fehlen.
"Weine nicht um mich, weil ich fort gehe. Denn eines schönen Tages bin ich wieder zurück", singt Tom am Schluss.
Also - das hoffen wir doch alle sehr. Lass uns hier unten nicht allzu lange allein. Oder hier oben. Wie auch immer. Komm bald zurück, Tom!
Waits No 22: Verlorengehen am Neujahrsabend auf dem Highway nach Chicago
Ein Wochenende lang höre ich mich nun schon in die limitierte 16-Song-Ausgabe von Toms erstem Studioalbum seit dem von mir euphorisch gefeierten „Real Gone“ hinein. Und erst gestern Nacht ist der Knoten geplatzt – mit lautem Knall. Seither liebe ich die Platte.
Zunächst war da allerdings, nun ja, nennen wir es mal freundlich gestimmte Fanskepsis auf sehr hohem Niveau. Dreizehn Lieder plus drei und trotzdem noch kürzer als eine Stunde? Und warum ist das hier größtenteils so laid back und entspannt? Ein Straus bunter Melodeien oder wie? Kaum in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen (mit Neil Young – Laudatio!) und schon gibt es selbstreferentielle Taschenspielertricks, Songzitate aus vierzig Jahren, Insidergags mit Keith Richards und Fotos mit immer wieder kehrenden gelben Schuhen drauf oder was? Wieso, mein lieber Tom, habe ich das sichere Gefühl, das alles schon mal so ähnlich gehört zu haben? Fangen wir nun also an, uns auf unseren Lorbeeren auszuruhen, hm?
Gestern Nacht, als ich mir mit Gänsehaut wegen der letzten Trompetenklänge des Auld-Lang-Syne-Motivs in „New Years Eve“ im Finale der Platte die Tränen aus dem Augenwinkel wischte, hatte ich dann verstanden: „Bad as me“ ist eine Werkschau. Tom geht entspannt in seinen musikalischen Welten der letzten vier Jahrzehnte spazieren, klopft da mal ein bisschen an ein Glockenspiel, klimpert hier versonnen über die Tasten eines Pianos, streicht dort einem Banjo die Seiten. Von diesem Album führen unzählige Pfade in die unterschiedlichsten Phasen seines Werkes, zu den unterschiedlichsten Klangräumen. Ein ungeheurer Spaß für den langjährigen Fan. Der Meister spielt ein paar Töne an und wir raten, was er gerade meinen könnte. Jetzt sind wir bei den „Rain Dogs“. Und nun plötzlich im Theatervarieté. Höre ich dort Anklänge an „Bone machine“? Ein Jazzbar-Piano? Tom, ist nicht Dein Ernst?!
Ist alles also reines, wunderschönes Zitatenkino auf dieser Platte? Nicht ganz. „Chicago“ gleich zu Beginn gefällt mir unglaublich gut, ein Lied, dass von der „Great migration“ erzählt. Und zwar auch musikalisch, denn wir folgen hier den Leuten aus dem Süden auch mit ihrem Sound auf der Reise nach Norden. Da ist der Delta-Blues, da sind John Lee Hooker und Screamin´ Jay Hawkins. Da ist die Mundharmonika des großen alten Charlie Musselwhite. Aber da ist auch das pulsierende Vibrieren der Cajun-Musik, das uns noch weiter durch die Platte begleiten wird. Meisterhaft. Dann kommt bald das magische „Face to the highway“, in dem man den Film aus Wasser und Staub der durch die Nacht gleitenden Roadtrains förmlich auf dem Gesicht spüren kann. Und kurz vor Schluss kommt „Hell broke Luce“, das nicht nur das unübersetzbare Wortspiel seines Titels so besonders macht, sondern das uns in dieser so freundlichen Platte einen ordentlichen Leberhaken versetzt, wenn wir am wenigsten damit rechnen.
Es gäbe noch viel zu erzählen. Über das fieselige Piano in „Talking at the same time“. Über Toms Stones-Gedisse in “Satisfied”. Über Elvis-Zitate. Über herzzerschmetternde Abschiedssongs. Aber schöner ist es, das alles selbst zu entdecken.
Die drei Bonus-Songs übrigens sollte man vielleicht wirklich als Bonus zu einem in sich stimmigen Dreizehn-Song-Album sehen. Wobei ich „Tell me“ ganz wunderbar finde. Und wenn Tom in „After you die“ nach den letzten Dingen fragt – dann hoffe ich doch sehr, dass er hier nicht mehr weiß als wir. Denn es stimmt schon – „Bad as me“ könnte auch ein feiner Schlusspunkt sein.