Meine Lausitz
Gedanken beim Blättern
im Kalender "Moja Łužica 2015"
Ende Oktober. In
Berlin-Friedrichshain ziehen über den Ausschnitt Himmel vor meinem
Hinterhoffenster die Wildgänse. Bald kommt der Winter. Seit Mitte der Woche ist
das auch in der Luft zu spüren. Gestern habe ich daher den Kachelofen im Zimmer
zum ersten Mal in dieser Saison angeheizt. Gleich kann ich die Ofentür
schließen, die Briketts sind durchgebrannt. Rekord,
wenn schon, denn schon. Der Keller ist noch vom vorletzten Sommer gut gefüllt –
Klimawandel, den vergangenen Winter über konnte ich sehr sparsam sein. Seit
gestern ist nun offiziell, dass Vattenfall sich aus der Lausitz zurückziehen
wird. In den Internetforen kochen die Emotionen hoch und Zukunftsszenarien wie -ängste
stehen im Raum. Vorhin hieß es auf einem Nachrichtenportal, womöglich werde der
Besitz in tschechische Hände wechseln. Das fände ich historisch folgerichtig,
schließlich gehörten die Lausitzer Flöze zwischen den Kriegen schon einmal zu
einem tschechischen Kohleimperium, damals dem von Ignaz Petschek. Da seitens
der frisch gewählten brandenburgischen wie sächsischen Regierung
Einvernehmlichkeit über die weitere Notwendigkeit zum Lausitzer Kohlebergbau in
den nächsten Jahrzehnten besteht, könnten die Protestbriefe der Umsiedlungsgegner
in Zukunft dann also nach Prag gehen statt nach Stockholm. Ein ganz neues
Kapitel gerade auch in der langen und besonderen Geschichte der
sorbisch-tschechischen Kulturbeziehungen! Frauen in Schleifer Tracht beim Protestbesuch
auf dem Hradschin – vielleicht schon im Jahr der Gültigkeit des Kalenders hier
auf meinem Berliner Schreibtisch.
Auch sonst beschäftigen mich einige Nachrichten aus der Heimat gerade gedanklich sehr. Bautzen steht anscheinend im Begriff, sich in den überregionalen Medien zu einem Symbolort für die neu aufflammende Angst vor den Fremden hierzulande zu entwickeln. Und angesichts der O-Töne, die da in den Berichten zu vernehmen sind, fällt es mir schwer, meine Gymnasialstadt davor in Schutz zu nehmen. Ich denke an die illegalen Wolfabschüsse, an die übermalten sorbischen Ortsschilder, an die Besuche deutscher Schlägertrupps auf sorbischen Dorfdiscos. Meine Lausitz?
Mit dem Begriff "Heimat" verknüpfen sich im allgemeinen Verständnis positive Assoziationen. Er steht für ein Gefühl des Einverstandenseins mit dem lokalen Umfeld, für Behaustheit, für Vertrautheit zu den hier lebenden Menschen und in die uns mit ihnen verbindende Umwelt. Der "Heimat" wohnt für die meisten Menschen ein willkommenes, ordnendes Prinzip inne, sie verkörpert für sie Struktur und Halt. Hier überfordert uns nichts, alles verläuft in uns bekannten, sicheren, kontrollierbaren, sich wiederholenden und deswegen lieb gewonnenen Bahnen.
Schon die Einleitung hat allerdings gezeigt, dass eine so verstandene, konfliktfreie Heimat eine Idealvorstellung beschreibt, die im Alltag nicht existiert. Auch in der Lausitz nicht. Heimat ist also immer auch eine Imagination, ein Sehnsuchtsort, eine gemeinschaftsstiftende Erzählung, deren kollektive Inhalte wir in Geschichten, Bildern und Orten oft seit unserer frühen Kindheit vermittelt bekommen haben. Diese Inhalte sind nicht starr und unveränderlich. Aber ihre Transformation unterliegt einem eigenen Tempo und ihre Neuaushandlung erfolgt langsamer als der sich immer weiter beschleunigende, örtlich unstet gewordene Lauf unserer Biografien. Der neue Jahreskalender des Domowina Verlags für die Lausitz macht das deutlich.
Der Heimatkalender! Die Welt in ihm ist ein gleichmäßig ablaufender Zyklus aus Wochen, Monaten und Jahreszeiten. Schneefall und Schneeschmelze, Baumblüte und Blattfall, Feldbestellung und Ernte. Feste kommen und gehen. Mit jedem Umblättern gibt uns ein neues Bild einen Wegweiser für das zentrale Thema der nächsten Tage unseres Lebensumfeldes, wie es sich über Generationen hinweg in der Vorstellungswelt und den Alltagserfahrungen seiner Menschen geformt hat. Die Zeit bekommt Struktur. Sind alle Blätter umgedreht, endet das Jahr, und mit einem neuen Kalender beginnt die gleiche Erzählung, lediglich durch andere Fotos illustriert, wieder von vorn.
Was für ein Bild zeichnen nun die 28 Fotografien von Wolfgang Wittchen in "Moja Łužica 2015" von der Lausitz? Zunächst gilt es festzuhalten, dass die gezeigte Lausitz die der direkten deutsch-sorbischen Sprachnachbarschaft ist. Das Oberland ist hier ebenso wenig zu finden, wie Görlitz und sein Umland oder die Niederlausitz außerhalb des Spreewaldes. Die eindeutige Mehrzahl der Motive spielt im obersorbischen Sprachraum. Als Gravitationszentrum dient hierbei die katholische Kamenzer Region, von der aus quasi Bildausflüge in die anderen zweisprachigen Winkel und Inseln der Lausitz unternommen werden: nach Schleife, nach Bad Muskau, nach Hochkirch auf dem Titel, in den Spreewald. Das Rückgrat des Kalenders bilden Motive von sorbischen Festen und Bräuchen des Jahreslaufs mit religiösem und/oder bäuerlichem Hintergrund. Dabei stehen sorbische Trachtenträger im Mittelpunkt des Geschehens. Das religiöse Element wird zusätzlich durch die mehrfache, prominente Abbildung von oberlausitzer Kirchen gestärkt. In diesen roten Faden sind Bilder vom Wechsel der Jahreszeiten eingewoben, die einer meteorologischen Idealvorstellung des mitteleuropäischen Klimas folgen. Lediglich ein Bild hat mit der Bautzener Altstadt einen eindeutig städtisch definierten Ort zum Thema. Postindustrielle Bildthemen finden sich mit der Energiefabrik Knappenrode und den Schwimmenden Häusern des Geierswalder Sees auf zwei Blättern des Kalenders. Gegenwärtige Industrie bleibt hingegen ausgeblendet. Generell fehlen auf der überwiegenden Mehrzahl der Fotos eindeutig ins Bild gerückte Hinweise auf eine industrielle Gegenwart, selbst PKW sind kaum zu sehen. Auf mehr als der Hälfte der Fotos sind keine Menschen abgebildet. Hier dominieren ländliche Stillleben, Tieraufnahmen und baukulturelles Erbe. Sind Menschen zu sehen, so werden sie in der überwiegenden Zahl der Fälle bei der Ausübung von Ritualhandlungen oder bei folkloristischen Darbietungen gezeigt. Nur zwei Motive durchbrechen diese Bildsprache zum Alltäglichen hin: der Schäfer mit seiner Herde und die Männer beim Abfischen des Teiches.
Stilistisch zeichnet die Fotos des Kalenders eine ruhige, schnell zu erfassende Bildsprache unter häufiger Verwendung einer klassischen Bildaufteilung aus. Gesättigte Farben und die Vermeidung zu scharfer Kontraste sorgen für angenehm zu betrachtende Kompositionen, die sich aber nicht so stark in den Vordergrund drängen, dass sie als Kalendermotiv zu große Raumdominanz entfalten. Experimente mit ungewöhnlichen Perspektiven oder technisch avantgardistischere Lösungen werden vermieden. Damit erfüllen sie exakt ihren Zweck als Bildgenre. So bietet "Moja Łužica 2015" eine Vielzahl gelungener Lausitzmotive mit professioneller Handschrift, die man sich prinzipiell auch auf einer guten Postkarte vorstellen könnte. Vor allem die Darstellung der Brauchhandlungen verrät ein mit dem Sujet vertrautes und über die Jahre geschultes Auge. Die Aufnahme vom Maibaumstellen in Sollschwitz stellt hierbei für den Rezensenten die gelungenste Leistung dieses Kalenderjahrgangs dar. Darüber hinaus ist es eine begrüßenswerte Entwicklung, dass Landschaftselemente und Artefakte der einstigen Tagebauregionen unterdessen zum festen Bildkanon der zweisprachigen Lausitz zählen.
Damit ist zum Ende das entscheidende Wort gefallen: kanonisch. Denn die Frage nach dem im Kalender gezeichneten Lausitzbild lässt sich folgendermaßen beantworten: Die zweisprachige Lausitz ist eine vom christlichen Glauben stark geprägte, idyllische Agrarlandschaft, deren Bewohner sich ihrer Identität hauptsächlich durch die Betrachtung folkloristischer Darbietungen vergewissern, deren Formensprache einer vormodernen Epoche entstammt. Eine zweite wesentliche Identitätsstütze stellt für sie die Teilnahme an ebenfalls einer bäuerlichen Lebenswelt verpflichteten religiösen Brauchhandlungen dar. Landschaftselemente der Industriegesellschaft spielen für die Lausitz nur in einer musealen oder touristischen Funktion eine Rolle, darüber hinaus nimmt sie aber keinen Anteil an den Zeitläufen der Moderne. Städtisches Leben existiert hier so gut wie gar nicht, im Broterwerb geht man einer Tätigkeit in der Landwirtschaft nach und die männliche Bevölkerung ist gut zu Pferd.
Ich habe hier natürlich überspitzt. Wenn man genau hinschaut, dann erahnt man unterhalb der Hochkircher Kirche die Carports der Eigenheime im Herbstdunst. Und vom Fensterbrett des Holzhauses im Spreewald grüßt der höchstwahrscheinlich in China gebrannte Halloweenkürbis aus dem Baumarkt. Es geht mir hier auch nicht um die in der Kulturkritik so gern unternommene Fingerübung der Zurschaustellung von "Heimattümelei". Denn wer die Institution des "Moja Łužica" Kalenders kennt, der weiß um deren Beliebtheit und damit eben auch Gültigkeit. Es wurde schon darauf hingewiesen – "Heimat" wird als Idee von unseren Sehnsüchten gespeist. Die hier enthaltenen Bilder verkörpern mit ihren kanonischen, in den Jahren nur leicht variierten Inhalten ganz eindeutig einen wichtigen Kern dessen, was in der zweisprachigen Lausitz nach wie vor von vielen als identitätsstiftend empfunden wird. Und dazu gehören eben auch all die Verkürzungen und Weglassungen, quasi die Bilder und Details, die dieser Kalender nicht enthält.
Gibt es also Änderungsbedarf? Nein, solange der Kalender in seiner bisherigen Form seine Käufer findet und seine kanonische Erzählung vom Lausitzjahr damit auf Gegenliebe stößt, sicher nicht. Ein "Moja Łužica"-Kalender ohne Osterreiter, ohne die Vogelhochzeit, ohne das Hahnrupfen erscheint auch dem Autor dieser Zeilen fern der Lausitz in seinem Berliner Mietshauszimmer kaum vorstellbar und unvollständig. Aber ein wenig mehr gegenwärtigen Alltag auf dem einen oder andern Blatt – den kann er sich durchaus vorstellen. Vielleicht ja einmal ein Fußballspiel, zum Beispiel des FSV Budissa Bautzen auf der heimischen Müllerwiese. Und sind nicht die Schwärme der Pilzsucher in den Heidewäldern auch ein ganz zentrales Ritual des Lausitzer Jahreslaufs? Gehört nicht vielleicht doch der Blick in den aktiven Tagebau auf eine der Seiten, gerade weil wir seine Existenz oft gern verdrängen möchten? Und findet sorbische Kultur nicht unterdessen auch in den großen Städten außerhalb statt, in die es die jüngeren Landeskinder zunehmend verschlägt? Hierzu in einem Jahrgang einmal ein Bild finden zu können, bevor es zwei Wochen später motivisch zum Abfischen an den Teich geht – es käme auf den Versuch an, was diese Kalenderheimat uns über uns zu erzählen wüsste.
Auch sonst beschäftigen mich einige Nachrichten aus der Heimat gerade gedanklich sehr. Bautzen steht anscheinend im Begriff, sich in den überregionalen Medien zu einem Symbolort für die neu aufflammende Angst vor den Fremden hierzulande zu entwickeln. Und angesichts der O-Töne, die da in den Berichten zu vernehmen sind, fällt es mir schwer, meine Gymnasialstadt davor in Schutz zu nehmen. Ich denke an die illegalen Wolfabschüsse, an die übermalten sorbischen Ortsschilder, an die Besuche deutscher Schlägertrupps auf sorbischen Dorfdiscos. Meine Lausitz?
Mit dem Begriff "Heimat" verknüpfen sich im allgemeinen Verständnis positive Assoziationen. Er steht für ein Gefühl des Einverstandenseins mit dem lokalen Umfeld, für Behaustheit, für Vertrautheit zu den hier lebenden Menschen und in die uns mit ihnen verbindende Umwelt. Der "Heimat" wohnt für die meisten Menschen ein willkommenes, ordnendes Prinzip inne, sie verkörpert für sie Struktur und Halt. Hier überfordert uns nichts, alles verläuft in uns bekannten, sicheren, kontrollierbaren, sich wiederholenden und deswegen lieb gewonnenen Bahnen.
Schon die Einleitung hat allerdings gezeigt, dass eine so verstandene, konfliktfreie Heimat eine Idealvorstellung beschreibt, die im Alltag nicht existiert. Auch in der Lausitz nicht. Heimat ist also immer auch eine Imagination, ein Sehnsuchtsort, eine gemeinschaftsstiftende Erzählung, deren kollektive Inhalte wir in Geschichten, Bildern und Orten oft seit unserer frühen Kindheit vermittelt bekommen haben. Diese Inhalte sind nicht starr und unveränderlich. Aber ihre Transformation unterliegt einem eigenen Tempo und ihre Neuaushandlung erfolgt langsamer als der sich immer weiter beschleunigende, örtlich unstet gewordene Lauf unserer Biografien. Der neue Jahreskalender des Domowina Verlags für die Lausitz macht das deutlich.
Der Heimatkalender! Die Welt in ihm ist ein gleichmäßig ablaufender Zyklus aus Wochen, Monaten und Jahreszeiten. Schneefall und Schneeschmelze, Baumblüte und Blattfall, Feldbestellung und Ernte. Feste kommen und gehen. Mit jedem Umblättern gibt uns ein neues Bild einen Wegweiser für das zentrale Thema der nächsten Tage unseres Lebensumfeldes, wie es sich über Generationen hinweg in der Vorstellungswelt und den Alltagserfahrungen seiner Menschen geformt hat. Die Zeit bekommt Struktur. Sind alle Blätter umgedreht, endet das Jahr, und mit einem neuen Kalender beginnt die gleiche Erzählung, lediglich durch andere Fotos illustriert, wieder von vorn.
Was für ein Bild zeichnen nun die 28 Fotografien von Wolfgang Wittchen in "Moja Łužica 2015" von der Lausitz? Zunächst gilt es festzuhalten, dass die gezeigte Lausitz die der direkten deutsch-sorbischen Sprachnachbarschaft ist. Das Oberland ist hier ebenso wenig zu finden, wie Görlitz und sein Umland oder die Niederlausitz außerhalb des Spreewaldes. Die eindeutige Mehrzahl der Motive spielt im obersorbischen Sprachraum. Als Gravitationszentrum dient hierbei die katholische Kamenzer Region, von der aus quasi Bildausflüge in die anderen zweisprachigen Winkel und Inseln der Lausitz unternommen werden: nach Schleife, nach Bad Muskau, nach Hochkirch auf dem Titel, in den Spreewald. Das Rückgrat des Kalenders bilden Motive von sorbischen Festen und Bräuchen des Jahreslaufs mit religiösem und/oder bäuerlichem Hintergrund. Dabei stehen sorbische Trachtenträger im Mittelpunkt des Geschehens. Das religiöse Element wird zusätzlich durch die mehrfache, prominente Abbildung von oberlausitzer Kirchen gestärkt. In diesen roten Faden sind Bilder vom Wechsel der Jahreszeiten eingewoben, die einer meteorologischen Idealvorstellung des mitteleuropäischen Klimas folgen. Lediglich ein Bild hat mit der Bautzener Altstadt einen eindeutig städtisch definierten Ort zum Thema. Postindustrielle Bildthemen finden sich mit der Energiefabrik Knappenrode und den Schwimmenden Häusern des Geierswalder Sees auf zwei Blättern des Kalenders. Gegenwärtige Industrie bleibt hingegen ausgeblendet. Generell fehlen auf der überwiegenden Mehrzahl der Fotos eindeutig ins Bild gerückte Hinweise auf eine industrielle Gegenwart, selbst PKW sind kaum zu sehen. Auf mehr als der Hälfte der Fotos sind keine Menschen abgebildet. Hier dominieren ländliche Stillleben, Tieraufnahmen und baukulturelles Erbe. Sind Menschen zu sehen, so werden sie in der überwiegenden Zahl der Fälle bei der Ausübung von Ritualhandlungen oder bei folkloristischen Darbietungen gezeigt. Nur zwei Motive durchbrechen diese Bildsprache zum Alltäglichen hin: der Schäfer mit seiner Herde und die Männer beim Abfischen des Teiches.
Stilistisch zeichnet die Fotos des Kalenders eine ruhige, schnell zu erfassende Bildsprache unter häufiger Verwendung einer klassischen Bildaufteilung aus. Gesättigte Farben und die Vermeidung zu scharfer Kontraste sorgen für angenehm zu betrachtende Kompositionen, die sich aber nicht so stark in den Vordergrund drängen, dass sie als Kalendermotiv zu große Raumdominanz entfalten. Experimente mit ungewöhnlichen Perspektiven oder technisch avantgardistischere Lösungen werden vermieden. Damit erfüllen sie exakt ihren Zweck als Bildgenre. So bietet "Moja Łužica 2015" eine Vielzahl gelungener Lausitzmotive mit professioneller Handschrift, die man sich prinzipiell auch auf einer guten Postkarte vorstellen könnte. Vor allem die Darstellung der Brauchhandlungen verrät ein mit dem Sujet vertrautes und über die Jahre geschultes Auge. Die Aufnahme vom Maibaumstellen in Sollschwitz stellt hierbei für den Rezensenten die gelungenste Leistung dieses Kalenderjahrgangs dar. Darüber hinaus ist es eine begrüßenswerte Entwicklung, dass Landschaftselemente und Artefakte der einstigen Tagebauregionen unterdessen zum festen Bildkanon der zweisprachigen Lausitz zählen.
Damit ist zum Ende das entscheidende Wort gefallen: kanonisch. Denn die Frage nach dem im Kalender gezeichneten Lausitzbild lässt sich folgendermaßen beantworten: Die zweisprachige Lausitz ist eine vom christlichen Glauben stark geprägte, idyllische Agrarlandschaft, deren Bewohner sich ihrer Identität hauptsächlich durch die Betrachtung folkloristischer Darbietungen vergewissern, deren Formensprache einer vormodernen Epoche entstammt. Eine zweite wesentliche Identitätsstütze stellt für sie die Teilnahme an ebenfalls einer bäuerlichen Lebenswelt verpflichteten religiösen Brauchhandlungen dar. Landschaftselemente der Industriegesellschaft spielen für die Lausitz nur in einer musealen oder touristischen Funktion eine Rolle, darüber hinaus nimmt sie aber keinen Anteil an den Zeitläufen der Moderne. Städtisches Leben existiert hier so gut wie gar nicht, im Broterwerb geht man einer Tätigkeit in der Landwirtschaft nach und die männliche Bevölkerung ist gut zu Pferd.
Ich habe hier natürlich überspitzt. Wenn man genau hinschaut, dann erahnt man unterhalb der Hochkircher Kirche die Carports der Eigenheime im Herbstdunst. Und vom Fensterbrett des Holzhauses im Spreewald grüßt der höchstwahrscheinlich in China gebrannte Halloweenkürbis aus dem Baumarkt. Es geht mir hier auch nicht um die in der Kulturkritik so gern unternommene Fingerübung der Zurschaustellung von "Heimattümelei". Denn wer die Institution des "Moja Łužica" Kalenders kennt, der weiß um deren Beliebtheit und damit eben auch Gültigkeit. Es wurde schon darauf hingewiesen – "Heimat" wird als Idee von unseren Sehnsüchten gespeist. Die hier enthaltenen Bilder verkörpern mit ihren kanonischen, in den Jahren nur leicht variierten Inhalten ganz eindeutig einen wichtigen Kern dessen, was in der zweisprachigen Lausitz nach wie vor von vielen als identitätsstiftend empfunden wird. Und dazu gehören eben auch all die Verkürzungen und Weglassungen, quasi die Bilder und Details, die dieser Kalender nicht enthält.
Gibt es also Änderungsbedarf? Nein, solange der Kalender in seiner bisherigen Form seine Käufer findet und seine kanonische Erzählung vom Lausitzjahr damit auf Gegenliebe stößt, sicher nicht. Ein "Moja Łužica"-Kalender ohne Osterreiter, ohne die Vogelhochzeit, ohne das Hahnrupfen erscheint auch dem Autor dieser Zeilen fern der Lausitz in seinem Berliner Mietshauszimmer kaum vorstellbar und unvollständig. Aber ein wenig mehr gegenwärtigen Alltag auf dem einen oder andern Blatt – den kann er sich durchaus vorstellen. Vielleicht ja einmal ein Fußballspiel, zum Beispiel des FSV Budissa Bautzen auf der heimischen Müllerwiese. Und sind nicht die Schwärme der Pilzsucher in den Heidewäldern auch ein ganz zentrales Ritual des Lausitzer Jahreslaufs? Gehört nicht vielleicht doch der Blick in den aktiven Tagebau auf eine der Seiten, gerade weil wir seine Existenz oft gern verdrängen möchten? Und findet sorbische Kultur nicht unterdessen auch in den großen Städten außerhalb statt, in die es die jüngeren Landeskinder zunehmend verschlägt? Hierzu in einem Jahrgang einmal ein Bild finden zu können, bevor es zwei Wochen später motivisch zum Abfischen an den Teich geht – es käme auf den Versuch an, was diese Kalenderheimat uns über uns zu erzählen wüsste.