Fotografie gegen das Verschwinden
In Erinnerung an Christian Borchert
Unter den Fotografien Christian Borcherts, deren Thema beinahe immer Menschen waren, finden sich nur sehr wenige, auf denen dieser Mensch der Fotograf selbst ist. Eines dieser seltenen Selbstporträts entstand 1976 im Hinterhof eines Mietshauses. Seit 1975 war Borchert freischaffend tätig. Damit begegnet der Betrachter ihm hier am Beginn seiner wichtigsten Schaffensphase.
Eine Kamera bietet für ein Selbstporträt eine eigene Funktion: den Selbstauslöser. Man drückt den Knopf und stellt sich in Positur. Dann macht es Klick. Borchert entscheidet sich für das Foto gegen diese Variante. Man meint beim Betrachten der Aufnahme zu ahnen warum: er will die Kamera mit auf dem Motiv haben. Zum Gelingen des Bildes braucht er daher einen Spiegel. Er findet ihn im Ankleidespiegel auf der Innenseite eines alten Kleiderschrankes. Aus dessen aufgeklappter Tür blickt einem der 34jährige mit ernstem Gesicht entgegen. Die Kamera ist an einem Stativ befestigt, das man ganz am Rand des Spiegels erahnen kann. Hinter der Schranktür wird im rechten Bilddrittel der marode Hof mit seinem bröckelnden Putz sichtbar – und der Fleck struppigen Grases, auf dem der Schrank hier steht.
Die Kamera ist auf diesem Foto nicht einfach nur ein Arbeitsgerät. Sie ist vielmehr Teil der Person des Fotografen. Dieser macht uns mit seiner etwas altmodisch anmutenden Fotografenpose aus dem Spiegel im Hof des alten Hauses irgendwo in den alt gewordenen Mietshausvierteln der DDR heraus deutlich, wen er mit ihr abbilden möchte: uns. Noch auf einem Selbstporträt nimmt Borchert damit das Gespräch mit dem Betrachter auf, beobachtet uns und befragt uns nach der Geschichte, die wir zu erzählen haben.
Christian Borchert sagte über seinen Antrieb beim Fotografieren einmal: „Distanz ermöglicht Deutlichkeit. Was mich an der Fotografie interessiert, ist, eine Mitteilung zu machen. Aber die wünsche ich mir gerecht, genau und ohne Übertreibung und Effekte, eben >entsprechend<, so dass andere – jetzt oder später an fremden Orten – sich eine Vorstellung machen können von Situationen und Verhältnissen. Es ist Fotografie gegen das Verschwinden.“
Festhalten, vor dem Vergessen bewahren, auf Bildern die Zeit einfrieren – Christian Borchert sah sich als Chronist mit Kamera. Womöglich war seine Kindheit im Nachkriegsdresden hierfür der Auslöser. 1942 in der sächsischen Elbmetropole geboren, wuchs er in den Trümmern einer Stadt auf, deren Schönheit er als kleines Kind noch kennen gelernt hatte. Der Schock ihrer Zerstörung lag über dieser Kindheit und die Erinnerung an den Zustand vor ihr prägte die Gespräche der Erwachsenen. Christian Borchert hat Dresden zu unterschiedlichen Zeitpunkten seiner Laufbahn immer wieder fotografiert. Er ist von seiner Geburtsstadt nie los gekommen, obwohl er die meisten Jahre seines Lebens in anderen Städten wohnte. Dresdens Schicksal ist vielleicht die Grunderfahrung, aus der sich sein Bedürfnis erklärt, mit seinen Bildern zu bewahren, was die Zeit unwiederbringlich verschwinden lässt.
Dieses Bestreben zeichnet alle seine Fotos aus – auch die Motive von Menschen, seien es Porträts, Gruppenbilder oder Alltagsszenen. In Christian Borcherts Werk finden sich daher nur sehr wenige Schnappschüsse. Man merkt diesen Bildern beim Betrachten an, das ihnen immer eine Beobachtung voraus gegangen ist, dass sich der Fotograf erst in die Situation eingefühlt hat, in der später das Foto entstand. Seine Motive wirken dabei aber nie gestellt, obwohl die auf ihnen Abgebildeten wussten, dass sie fotografiert werden. Borchert belauerte sie nicht, um in einem unbemerkten Moment den Auslöser zu drücken. Die Bilder, die so entstanden, schildern immer einen Dialog zwischen Fotograf und Porträtiertem. Alle Beteiligten sind gleichberechtigt. Diese Fotos sind nicht die Bilder eines Paparazzo. Deswegen strahlen die von Borchert Porträtierten immer eine große Würde aus, egal ob es sich bei ihnen um einen Schriftsteller vor seinem Bücherregal, eine Arbeiterin in einer Großwäscherei oder eine Dorffußballmannschaft in ihrem Klubheim handelt.
Wie war es, von Christian Borchert fotografiert zu werden? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, machen wir eine Reise in ein kleines Dorf im östlichen Sachsen. In Wuischke bei Bautzen bestand hier in den 1980er Jahren ein kleiner Freundeskreis aus Künstlern. Gemeinsam mit ihren Familien verbrachten hier für die literarische Szene der DDR so wichtige Personen wie Elke Erb, Adolf Endler und Heinz Czechowski regelmäßig die Sommermonate. Hinzu kam als ständiger Bewohner des Dorfes noch der sorbische Dichter Kito Lorenc mit seiner Familie. Ihre drei benachbarten Häuser waren immer wieder Anlaufpunkt für Feste, zu denen Freunde und Bekannte aus der gesamten DDR anreisten. Zu ihnen gehörte auch Christian Borchert. Er hat bei seinen Besuchen immer wieder Fotos des Freundeskreises und von den anderen Bewohnern des Dorfes gemacht. Ein Motiv aus diesen Wuischker Bildern kehrt dabei über die Jahre regelmäßig wieder: das Foto der Familie von Kito Lorenc an der Ecke ihres Hauses. Insgesamt sechzehn Bilder entstanden hier in den Jahren 1979 – 1997. Auf ihnen kann man das Heranwachsen der beiden Kinder und das Älterwerden der Eltern wie im Zeitraffer mitverfolgen. Aber auch Ereignisse wie das Ende der DDR werden bei genauem Hinsehen am Kleidungsstil der Familienmitglieder deutlich. Vom ersten Foto an mit dabei war der älteste Sohn der Familie. Wie erinnert er sich an die Besuche des Fotografen? „Christian Borchert war ein langjähriger Freund unserer Eltern. Für uns Kinder hatte er immer etwas Geheimnisvolles an sich. Das lag einerseits an seiner Fotografenausrüstung, die uns natürlich immer sehr interessierte. Außerdem hatte er es sich bei seinen Sommerbesuchen angewöhnt, im Heck seines Wartburg-Kombi draußen vor der Scheune zu übernachten, was uns immer sehr rätselhaft erschien. Wir schlichen am Morgen häufig um sein Auto herum und lugten durch die Scheiben hinein, weil wir natürlich dachten, er verbirgt dort irgendein großes Geheimnis. Ich habe noch seine Stimme im Ohr. Sie war immer sehr ruhig und freundlich, aber auch etwas zurückhaltend. Ich kann mich nicht an eine einzige Gelegenheit erinnern, wo er einmal laut geworden wäre, obwohl wir Kinder gegenüber den vielen wechselnden Gästen immer sehr neugierig und manchmal auch ein bisschen aufdringlich waren. In meiner Erinnerung ist er ein stets freundlicher, zurückhaltender Mann mit einer Kamera und einer sehr Vertrauen erweckenden, ruhigen und sanften Stimme.“
Und die Fotos? „Die Fotos heißen bei uns bis heute >Hauseckenfotos<. Unsere Eltern haben meinem Bruder und mir als wir zum Studieren und Arbeiten nach Berlin gegangen sind jeweils ein kleines Fotobuch mit allen sechzehn Aufnahmen geschenkt. Da schaue ich immer wieder hinein oder ich zeige es Freunden. Es ist wie eine Zusammenfassung meiner Schuljahre und ein Fenster in die Kindheit. Ich kann mich auch noch sehr gut daran erinnern, wie wichtig wir alle dieses Foto nahmen, wenn uns Christian Borchert besuchte. Es hatte immer etwas Feierliches, wenn wir uns zusammen draußen an der Hausecke aufstellten. Man wusste, es war wieder ein Jahr vergangen. Oder auch zwei, in manchen Jahren hat es sich ja auch nicht ergeben und er konnte uns nicht besuchen. Aber eigentlich gehörte das Hauseckenfoto meine ganze Kindheit über zu den wichtigen jährlichen Ereignissen in unserer Familie, wie Geburtstage oder die Feiertage. Meistens machte er das Foto am Ende seines Besuches, wenn er nach ein oder zwei Tagen wieder weiter musste. Ihm war dieser Moment immer genauso wichtig wie uns. Ich sehe ihn noch heute vor mir, wie er mit der Kamera vor uns stand und uns mit der Hand das Zeichen gab, dass er den Auslöser drückt. Darüber hinaus hat er uns aber nie irgendwelche Anweisungen gegeben. >Bitte jetzt lächeln<, oder so. Wir durften auf den Bildern eigentlich machen, was wir wollten. Einmal hat mein Bruder eine unglaubliche Grimasse gezogen. Da hat er hinter seiner Kamera vergnügt gekichert. Er hat uns nie das Gefühl gegeben, dass er uns als Fotograf zu irgendeiner bestimmten Pose bringen möchte. Wir konnten ganz wir selbst sein. Rückblickend erscheint es mir heute manchmal so, als taten wir ihm damit, dass er uns fotografieren konnte, einen genau so großen Gefallen, wie umgekehrt. Er wirkte beim Aufnehmen dieser Fotos in meiner Erinnerung immer sehr glücklich.
Einmal, da muss ich vielleicht so zehn, zwölf Jahre alt gewesen sein, hat er mich mit seinem Wartburg von unserem Dorf aus einen Nachmittag lang mit auf Tour genommen. Ich kann mich noch erinnern, wie wir in einem Nachbardorf eine alte Frau entdeckten, die aus einem Erdgeschossfenster ihres Hauses lehnte und die Straße beobachtete. Er ist beinahe schüchtern zu ihr hingegangen und hat sie gebeten, sie fotografieren zu können. Danach hat er sich noch etwas mit ihr unterhalten und sie nach ihrer Adresse gefragt, damit er ihr den Abzug schicken kann. Ich glaube, das war ihm immer sehr wichtig. Dass die Leute einen Abzug des Bildes erhielten, das er von ihnen gemacht hat. Wenn ich heute an ihn zurück denke, stelle ich ihn mir eigentlich immer in dem Moment vor, in dem er diesen Abzug in einen Briefumschlag steckt und die Adresse auf ihn schreibt. Ich glaube, er hat immer Fotos für die Leute gemacht.“