Im Kulissen-Traumland
Mit „The Grand Budapest Hotel“ erzählt Wes Anderson ein Märchen von Europa. In Görlitz.
„Hier waren wir glücklich – für eine kleine Weile." Im vorletzten Satz findet Wes Andersons neuester Film seinen Kern. Zuvor geht es im Höchsttempo durch eine Handlung voller surrealer Wendungen, Situationskomik, Wortwitz und großartigem schauspielerischen Klamauk. Man fühlt sich immer wieder an das Tempo klassischer Filmkomödien von Lubitsch und Wilder erinnert. Ein großer Spaß! Perserkatzen werden aus Fenstern geworfen. Sehr alte Damen geben sich der körperlichen Liebe hin. Gefängnisausbrüche werden geplant. Informanten werden in Beichtstühlen erdrosselt. Verfolgungsjagden führen über Skisprungschanzen. Schießereien in Hotellobbys. Erbschleicherei. Erste Liebe. Bedrohliche Grenzkontrollen. Die Filme des US-Amerikaners wirken an ihrer Oberfläche oft wie ein großer, bunter, ironischer Kindergeburtstag für Erwachsene. Schauspieler können hier alles geben. Deswegen kommen sie auch alle, wenn Anderson ruft. Trotz kleiner Gage, denn Kassenerfolge im herkömmlichen Sinn dreht er nicht. Vielmehr erzählt er uns tragikomische Filmmärchen, auf deren Grund sich die Ahnung des Vergänglichen und eine feine Melancholie finden.
Diesmal geht es in den zentraleuropäischen Fantasiestaat Zubrowka (natürlich!), den man sich vielleicht wie die Tschechoslowakei der Zwischenkriegsjahre vorstellen kann, die jemand über Nacht in die Alpen versetzt hat. Anderson sagt zu seinem Werk, dass er es als europäischen Film anlegen wollte. Doch die Welten des Wes Anderson sind nie real im historischen Sinn. Sie liegen immer knapp neben der Realität in einem Grenzland aus Traum und Wirklichkeit. Das zeigt schon die Musik des Films, die Roma-Melodien mit Balalaika-Klängen und Alphörnern charmant vermischt. Zum Kronzeugen hat sich der Regisseur Stefan Zweig mit dessen bittersüßen Lebenserinnerungen an die bürgerliche Welt der versunkenen Habsburger Monarchie erwählt. Man kann sich aber auch an die Geschichten und Figuren von Bohumil Hrabal erinnert fühlen.
Insgesamt vier Erzählebenen schichtet Anderson mit leichter Hand für seinen Film aufeinander. Ein Buch wird aufgeschlagen. In ihm erzählt sein amerikanischer Autor von einem lange zurückliegenden Gespräch mit einem alten Herrn in einem ebenso alten, inzwischen abgerissenen Hotel in Mitteleuropa. Es ist die Welt dieses Gesprächs, in die wir nun hinabtauchen. Der zeitliche Vorhang hebt sich – und wir sind im Zubrowka der 1930er Jahre, auf dessen Vielvölkergemisch bereits der Faschismus seinen dunklen Schatten wirft. Das „Grand Budapest Hotel“ erlebt gerade seine Glanzzeit. Und im Zentrum des Glanzes strahlt Monsieur Gustave H., sein Concierge. Als unangefochtener Herrscher führt er das edle Hotel mit einer Mischung aus eitler Selbstherrlichkeit, Perfektionismus und Hingabe. Letztere bezieht sich auch auf die im Hotel logierenden sehr reifen Damen der Gesellschaft, deren Liebhaber er für die Dauer ihres Aufenthalts ist. Eben verlässt mit Madame D. eine von ihnen wieder das Hotel. Im gleichen Moment beginnt der junge Zero Moustafa seine Laufbahn als Lobby Boy. Wenig später ist Madame D. tot, Gustave erbt ein wertvolles Gemälde und hat daraufhin die Familie der Verstorbenen im Nacken. Allen voran den finsteren Dmitri, der den psychopatischen Mörder Jopling auf die Fährte des Erben setzt. Wie Gustave mit Zeros Hilfe versucht, den Hals aus der Schlinge zu bekommen, erzählt der Film nun als wilde, vor Ideen sprühende, urkomische Räuberpistole. Allein wegen des Spiels der beiden Hauptdarsteller muss man diesen Film sehen. Ralph Fiennes als selbstverliebter Concierge und Tony Revolori als aufgeweckter und loyaler Lobby Boy sind als Paarung das Witzigste, was es seit langer Zeit im Kino zu sehen gab. Dazu liefert der schier unfassbar prominent besetzte Cast am laufenden Band darstellerische Glanzleistungen bis in kleinste Nebenrollen. Wes Anderson liebt seine Schauspieler. Und sie zahlen ihm die Liebe überschwänglich zurück. Es geht in einem unglaublichen Tempo hin und her, jede Geste, jeder Gesichtausdruck ist auf den Punkt genau gesetzt. Und wie stets bei Wes Anderson bewahren auch diesmal die Figuren noch in den absurdesten Szenen und Übertreibungen der Regie ihren heiligen Ernst. Für Liebhaber ironischen Humors, der stark auf dem körperlichen Aspekt des Schauspielens beruht, ist dieser Film ein Pflichttermin.
Und dann ist da ja noch Görlitz, und damit das Märchen im Märchen. Die Geschichte geht so: Wes Anderson kam zur Drehortbesichtigung für ein paar Szenen an die Neiße. Er verliebte sich in die Stadt und ihre Atmosphäre. Woraufhin der Film größtenteils in ihr gedreht wurde und sich über den langen Winter 2012/13 hinweg Hollywoodstars der allerersten Kategorie hier die Klinke in die Hand gaben. Einmal mehr hat der Zauber von Görlitz gewirkt: Wes Anderson suchte nach einem versunkenen Europa, nach Orten einer „guten alten Zeit“. In Görlitz stehen sie auf kleinem Raum beieinander. Anderswo holt man die Kulissenbauer. Hier warten ein leer stehender Theatersaal, ein verwaistes Jugendstilkaufhaus oder ein pittoresk verfallenes Wannenbad darauf, für kurze Zeit aus ihrem Schlaf erweckt zu werden. Ein Traum für jeden Regisseur (mit ernstem Hintergrund für die Einheimischen)!
Ob irgendwann die Filmteams auch einmal wegen des realen Görlitz kommen? Um Geschichten aus der Gegenwart zu erzählen? Das wäre schön. Bis dahin wird die Lausitz vorerst Kulisse für Träumer bleiben. Zum Beispiel für Menschen wie Wes Anderson, der auf der Suche nach den atmosphärischen Spuren eines vom Nationalitätenhass noch nicht entzweiten Kontinents und seiner Kultur in unserer kleinen Gegend fündig geworden ist (Dampflok ist er auch gefahren!). Hier erzählt er nun für die ganze Welt das alte, schöne Märchen vom grenzenlosen, kulturell bunt gemischten, unüberschaubaren Europa. Diese Geschichte hat gerade politisch einen schweren Stand, ihr droht die Romantik abhanden zu kommen. Es ist wie so oft – ein Fremder muss kommen, um mit seiner Begeisterung einmal wieder den Blick zu weiten. Ein schönes Kompliment, dies gerade in der Lausitz zu tun. Ob es verdient ist – nun ja. Manchmal vielleicht. Danke für den Besuch, Herr Anderson und Auf Wiedersehen! Von Ihnen lassen wir uns gern zur Kulisse machen.