"Der Frieden ist nur eine Pause zwischen zwei Kriegen"
Gedanken über Europa beim Lesen des jüngsten Romans "Nationalstraße" von Jaroslav Rudiš
Lausitzer Landschaft mit Fahne, 2016
Am Beginn dieses Textes soll ein Zitat des Autors aus dem Nachwort der deutschen Ausgabe von 2015 stehen: "Ich wollte ein Buch schreiben über uns Tschechen, die wir unter uns leben und große Angst vor dem Fremden und vor den Fremden haben. Es hat etwa hundert Jahre gedauert, bis wir ankamen, wo wir heute stehen. Von Österreich-Ungarn haben wir uns 1918 getrennt, 1938 kamen die Nazis, die alle Juden umgebracht haben. Die vielen Deutschen, die in der Tschechoslowakei lebten, wurden nach Kriegsende vertrieben. Kurz nach der Wende haben wir uns von den Slowaken verabschiedet. Ich wollte ein Buch schreiben über die absurde Einsamkeit, in der wir heute leben – mitten in Europa."
Jaroslav Rudiš, der beim deutschen Publikum zuletzt mit seiner Graphic Novel "Alois Nebel" für Aufmerksamkeit sorgte, hat dieses Buch geschrieben. Auf 150 intensiven Seiten kreist es in der wörtlichen Rede seines Protagonisten elliptisch um sich wiederholende Bilder und Metaphern, sodass sich mitunter Assoziationen von Rapgesang einstellen. Und es ist einer der stärksten Texte, den es derzeit zur Lage der Dinge zu lesen gibt. Denn "Nationalstraße" geht dahin, wo es Europa weh tut. Dorthin, wo Leute wie Vandam sind.
Vandam lebt bereits sein ganzes Leben lang in den Plattenbaugebieten des Prager Nordens. Er hat 1990 den Absprung nicht geschafft wie beispielsweise sein Bruder, der jenseits des Waldes neben der Siedlung in einem neuen Eigenheimviertel wohnt, mit Frau, Beruf und Auto. Vandam hingegen hat sich in der Siedlung, die sein Vater miterrichtete bevor er irgendwann vom Balkon in den Tod sprang, eingerichtet. Sein Fixstern hier ist die "Severka", die Plattenbaukneipe, in der er am Tresen mit den Saufkumpels räsoniert, mit Barfrau Sylva anbändelt und mit Fremden, die sich in das Lokal verirren, handgreiflichen Streit sucht. Vandam hat sich einen Schutzpanzer aus Muskeln und eine dazu passende Krieger-Philosophie zugelegt, die er sich aus Versatzstücken selbst ausgedachter vorchristlicher Heldenmystik, den VHS-Actionfilmen Jean-Claude Van Dammes und faschistischer Symbolik zusammengebastelt hat. Als selbst erklärter "letzter Krieger" hält er Wacht über seine kleine Welt der Siedlung. Und wir ahnen bald die große Angst und Verzweiflung, die die Grundlage all dessen bildet – denn Vandam steckt in einer Sackgasse. Verliert er diese Welt, verliert er alles. Es gibt keinen weiteren Rückzugspunkt mehr. Jeder Impuls von außen kann für diese fragile Konstruktion ihr Ende bedeuten. Vandam steht mit dem Rücken zur Wand. Und er hat permanent die Fäuste oben.
Mit Blick auf das Eingangszitat wird die Vielschichtigkeit des ursprünglich 2013 publizierten Romans schnell deutlich. Rudiš präsentiert hier nicht einfach nur die Geschichte eines Abgehängten. Auf einer zweiten Ebene liefert er vielmehr eine literarische Allegorie der Geschichte Mitteleuropas seit dem 19. Jahrhundert mit Blick auf ihre isolationistischen Tendenzen, wie sie sich in der Verbindung von "Nation" und "Kultur" zu höchster Wirkmacht verketteten. Die historische Bilanz für Tschechien führt er im Zitat selbst aus.
Es gab in den 2000er Jahren in Mitteleuropa unter einigen Menschen meiner Generation der in den 1970er Jahren Geborenen zeitweise so etwas wie eine späte Liebe zur K.-u.-k.-Monarchie. Nicht des Kaisers wegen. Sondern wegen des Schienennetzes bis nach Galizien und an die Adria. Wegen der an Wien orientierten Metropolen bis hinüber nach Lemberg. Wegen Palatschinken und Gulasch in zahlreichen Sprachen. Unter den plötzlich durchlässig gewordenen vielen Grenzen lugte die Blaupause eines bereits einmal monarchisch geeint gewesenen Europas hervor. Dieses Europa war am Nationalismus aller Beteiligten zerbrochen, das konnten wir bei Stefan Zweig nachlesen. Mit dem Zerfall Jugoslawiens hatten wir den neuerlichen, sozialistischen Versuch in den Nachrichten selbst als Jugendliche aus demselben Grund blutig scheitern sehen. Ein drittes Mal in hundert Jahren sollte uns das nicht passieren. Wir, die Generation der "Erasmus"-Studenten, würden alles besser machen.
Machen wir das? Haben auch wir nicht wieder die Situation der Vandams ignoriert? Jener mit dem Rücken zur Wand? Jener ohne Alternative, egal ob im Prager Plattenbau oder im Pariser Banlieue? Wie hält es meine Generation denn mit der sozialen Frage, die derzeit einmal mehr ihren beliebten und erprobten europäischen Trick neu aufzuführen scheint, indem sie durch interessierte Teile der Politik und der Intellektuellen in Stellvertreterkämpfe um "Kultur" und "Volk" umgedeutet wird? Haben wir uns im Zuge der EU-Erweiterung genügend Gedanken gemacht um die unterschiedlichen Blickwinkel und Emotionen in Bezug auf die "Erzählung von der Nation" auf diesem Kontinent in West und Ost? Die Leute fangen wieder an, ihre Fahnen herauszuholen. Zwölf Sterne verbunden im Kreis sind in aller Regel nicht darauf. Es ist Vandams Europa, das da wieder hervortreten möchte. "Ich weiß, was läuft. Ich spüre, wie unser Europa wackelt. […] Es stellt die Stacheln auf. Rüstet zu neuen Schlachten."
Ich habe selten ein Buch gelesen, das so gespenstisch in die Zeit zu passen schien, wie "Nationalstraße" von Jaroslav Rudiš. Ich hoffe sehr, dass es uns gemeinsam gelingt zu vermeiden, dass künftige europäische Generationen es als Menetekel rezipieren werden.