Nachruf auf ein Holzscheit
Wenn ich von der Warschauer aus in die Stadt muss, nehme ich mein Fahrrad. Überall bringt es mich hin und beinahe nüscht kostet es mich - außer hin und wieder ein Ersatzteil und wenn ich Pech habe auf der Leipziger oder der Torstrasse mal irgendwann mein Leben. Der Weg meiner Wahl ist dabei nicht die Fahrradautobahn der Karl-Marx-Allee oder die Freiwildachse der Holzmarkstrasse, nein, es ist der Friedrichshainer Schleichweg, der an der Warschauer/ Ecke Grünberger beginnt, durch die innerstädtischen Plattenbauuntiefen links und rechts der Singerstrasse mäandriert, in die sich nie eine spanische Hostel-Touristengruppe verirren würde (keine Spätkäufe!), um dann plötzlich an der Alexanderstrasse wieder die Zivilisation zu erreichen. Ruhig ist es hier, vor dem Kaisers am Weg steht manchmal "Willi Winzig´s Restposten" und in den Punkthochhäusern sind Altersresidenzen untergebracht, für WBS 70-Fans. Vor einer kam mir mal in einer Rechtskurve hinter parkenden Autos auf meiner Spur ein Rollstuhlfahrer auf seinem Weg zum Schlecker entgegen und schimpfte mir nach meinem letztsekündlichen Ausweichmanöver erschrocken Verwünschungen hinterher. Da wären wir beide fast ein qualitativ interessantes Beispiel für die demographische Wende geworden (Verkehrsunfälle früher und heute - Fieldnotes from an aging society), dachte ich bei mir, bevor ich mich beherzt in mein Einfädelmanöver auf der Alexanderstrasse begab. Dann gleich wieder links abbiegen, vorm Alexa, das bei der nächsten Bombardierung Berlins dank seiner Farbpräsenz zu den ersten, wohlverdienten Opfern gehören dürfte. Hier ist es wieder ruhig, kurz vor der Waisenstrasse passiert man die mittelalterliche Stadtmauer und hoppelt am Podewil vorbei über Kopfsteinpflaster. Links steht verträumt die Parochialkirche, meine Berliner Lieblingskirche, weil mich ihr freundliches Barock immer in sächsisch-lausitzische Stimmung versetzt. Damit ist es wenige Meter weiter, jenseits der Klosterstrasse, schlagartig wieder vorbei. Denn hier ballt sich im Alten und Neuen Stadthaus Berliner Verwaltungsarchitektur in ihrer ganzen grauen Gesäßhaftigkeit und wie ein Zäpfchen stosse ich durch diesen bürokratischen Verdauungskanal hindurch in die Weiten des vormaligen Molkenmarktes, der jetzt hauptsächlich eine in alle Himmelsrichtungen ausufernde, gigantische Strassenkreuzung ist. Freiheit und Luft erwarten mich hier und alle Stadtrichtungen stehen mir von hier aus offen - nur die Bordsteinkannte der Jüdenstrasse, die will vorher überhüpft sein. Ärgerlich dieses Hindernis, des Fahrradfahrers Schwung abträglich im städtischen Strassenlandsrestraum. Grämlich heisst es Tempo drosseln und würdelos aber felgenschonend wie in alten BMX-Bande-Zeiten das Vorderrad zu lupfen.
Doch das war nicht immer so. Bis zum Ende des letzten Sommers lag an eben dieser Stelle das oben abgebildete Stück Holz, von einem umsichtigen Mitnutzer dieser Fahrstrecke dort abgelegt, um das Passieren der Schwelle sportlicher und flotter zu gestalten. Diesem unbekannten Gestalter des Strassenraumes sei hier mein Dank ausgesprochen und mit Trauer an das brave Holzscheit erinnert, das hier über Monate hinweg treu seinen Dienst am Radfahrer versah. Denn dieses Scheit war ja nicht einfach nur eine Gehhilfe für Räder. Nein, es war für mich auch immer ein Beleg für eine Sicht auf Berlin, die ich irgendwann mal jemanden habe aussprechen hören und die sich mir eingefressen hat - dass Berlin nicht, wie häufig behauptet, die östlichste Metropole des Westens sei, sondern ganz im Gegenteil, die westlichste Metropole des Ostens. Hier behilft man sich einfach mit einem Stück Holz, statt gleich den ganzen Gehweg neu zu planen. Berlin, Stadt der Improvisation und des Provisorischen, selten fühlte ich mich dir so nahe wie beim Holzscheit auf der Jüdenstrasse.
Doch das Holzscheit ist nicht mehr. Schon seit Monaten muss ich wieder abbremsen und hüpfen. Und jedesmal, wenn ich das hier tue, grübele ich über seinen Verbleib nach. Mehr und mehr rücken dabei die hohen Mauern das Alten Stadthauses hinter mir in mein Bewußtsein. Sehe ich nicht im Augenwinkel, BEIM HÜPFEN, wie sich dort eine Gardine bewegt, wie mich befriedigt Augenpaare beobachten? Und eben habe ich mir Gewissheit verschafft, im Internet. Im Alten Stadthaus residiert die Senatsverwaltung für Inneres und Sport! Die haben das Scheit! Genauer die Abteilung III, Öffentliche Sicherheit und Ordnung - Referat III B, Recht der Öffentlichen Sicherheit und Ordnung; Aufsicht über den Polizeivollzugsdienst; Lagezentrale - Arbeitsgruppe III B 3, Öffentliche Sicherheit und Ordnung. Dort hängt es an der Wand, und wenn sie sich bei ihren Kaffeepausen besuchen, dann schleichen sie sich hinter ihre Gardinen und warten und hoffen: Dass wieder einer kommt und hüpft. Berlin ist eine grausame Stadt.