Ihr und Wir
Für Rolf Lindner zum 65. Geburtstag
„Wir sind eure Hauptstadt, ihr Bauern!“ Es ist der November 2009, ich stehe im Heimblock der Alten Försterei in Berlin-Köpenick. Unten spielt der 1.FC Union Berlin gegen den FC Energie Cottbus. Es steht 1:0 für die Heimmannschaft. Am Ende wird man sich 1:1 trennen. Das finde ich tief in mir auch in Ordnung, denn als Lausitzer unterlag ich bei dem Spiel doch einer gewissen Zerrissenheit bei der Verteilung meiner Sympathien.
Von dem Spiel ist mir im Grunde nur die eingangs im Wortlaut zitierte Schmähung der Köpenicker in Richtung der Cottbusser Gäste im Gedächtnis haften geblieben. Dies dafür gründlich.
Erinnerungen an lange, sonnendurchglühte Hochsommerwochen in den 1980er Jahren in meinem oberlausitzer Heimatdorf Wuischke am Czorneboh. Lange Ferien, ganze acht Wochen, Juli und August, eine süße, langsam verrinnende Ewigkeit. Der Geruch von Kuhfladen, Bachkresse, Heu und weich gewordenem Asphalt. Grind an den Knien, vom Hinfallen mit dem Fahrrad. Brennnesselblasen. Dreimal am Tag heult der Bus über die Dörfer. Im Fernsehen sowjetische Märchenfilme. Der Bach plätschert träge durch die Wiesen in Richtung der flirrenden Ebene, aus der die Schornsteine der Kraftwerke herausragen.
In ihre Richtung habe ich heute eine ganze Weile vergeblich gestarrt, aus der Krone des kränklichen Glaskirschenbaums heraus, der an der Kurve unseres Feldwegs leicht erhöht über dem Bachtal steht. Der Junge aus Berlin hatte behauptet, er hätte von dort oben aus am Vormittag den Fernsehturm gesehen. Ich strenge mich an, so sehr ich kann. Es gelingt mir nicht, ich sehe ihn einfach nicht.
Der Junge aus Berlin ist jeden Sommer ein paar Tage nebenan in der ehemaligen Mühle zu Besuch. Er ist ein paar Jahre älter als ich und ich himmele ihn an. Ich bewundere seinen Dialekt und die selbstsichere Art, in der er ihn zu gebrauchen weiß. Ich erzittere vor Ehrfurcht wenn ich Zeuge dabei bin, wie er frech zu den Erwachsenen wird. Ich liebe sein spöttisches Lachen, das eher ein Kichern ist und fürchte es zugleich. Wenn er sich in manchen Sommern einen gleichaltrigen Schulfreund aus der Stadt mitbringt, dann frisst mich meine Eifersucht fast auf.
Er spielt Schach und macht sich einen Spaß daraus, mich unter dem Vorwand, es mir beibringen zu wollen, ein ums andere Mal ins offene Messer laufen zu lassen. Dasselbe passiert beim Monopoly. Einmal sammelt er auf dem Kalkstreifen der Seitenauslinie unseres Fußballplatzes einen ganzen Korb voll Tintenschöpflinge, die er abkocht und mir zu essen gibt. Als mir davon schlecht wird, fährt mich meine Mutter schimpfend ins Bautzener Krankenhaus. Aber eigentlich tue ich ihr leid, weil ich so unglücklich in meinen Peiniger verliebt bin.
In der DDR gab es eine Limonaden-Sorte, „Carina“. Sie sollte Orangenlimonade vorstellen und spielte in den unterschiedlichsten Gelbtönen. Wenn sie schon etwas länger in den kleinen 0,3 Liter-Glas-Flaschen stand, begann sie auszuflocken und auf dem Flaschenboden bildete sich eine merkwürdige Schicht dieser Ausfällungen, die wir beim Trinken versuchten, möglichst nicht aufzuwirbeln. Einmal besuche ich den Berliner Jungen in seinem Zimmer im Obergeschoss der Mühle. Ich entdecke eine halbausgetrunken „Carina“ - Flasche neben seinem Bett und greife zu. Er lässt mich gewähren, beobachtet mich aber gespannt beim Ansetzen der Flasche. Ich merke nicht gleich, dass die Flüssigkeit in ihr keine Limonade ist. Sein Lachen, als er mir diese Erkenntnis am Gesicht ablesen kann, habe ich heute noch im Ohr.
Wir waren auch einmal zum Gegenbesuch bei seinen Leuten in Berlin. Diese Fahrt ist bei meinem Bruder und mir vor allem deshalb legendär, weil wir in den wenigen Sommertagen in der Hauptstadt ca. zwanzig Melonen gegessen haben. An Melonen war im Bezirk Dresden nur schwer heranzukommen. Zwei Begebenheiten dieses Berlin-Besuches haben sich mir aber konkret eingeprägt.
Zunächst war da unsere Ankunft auf dem Bahnhof Lichtenberg. Vor den großen Flügeltüren des Haupteingangs war einer der mächtigen Gitterroste auf dem Fußweg nach oben geklappt. Ein Mann von der Stadtreinigung schöpfte inmitten des Passantenstromes aus dem darunter befindlichen Schacht mit einer langen Schöpfkelle und in stoischer Ruhe eine dunkle, nach Gülle stinkende Flüssigkeit. Seither verbindet sich meine erste konkrete Erinnerung an Berlin mit dem Geruch, der über meinem Kindheits-Tal lag, wenn im Frühherbst die LPG ihre Felder jauchte.
Die zweite Begebenheit spielt auf einem Abenteuerspielplatz in Mitte. Man hatte hier eine kleine Burganlage nachempfunden, mit Rutschen, Kletterstangen und geheimnisvollen Durchgängen, in denen es mitunter ungut roch. Mein Bruder und ich waren entzückt. Besonders angetan hatte es uns ein einzeln stehender Turm, auf den man nur über eine kurze Metall-Sprossenleiter hinauf kam. Auf dem Spielplatz war noch eine Gruppe Berliner Kinder, die uns beobachtete. Irgendwann kam einer von ihnen herüber, als wir gerade oben auf dem Turm waren. Er schaute zu uns herauf. Dann knöpfte er sich seine Hose auf und pisste zu unserem ohnmächtigen Entsetzen auf die Sprossen der Leiter. Die anderen aus seiner Gruppe johlten vergnügt, als er im Triumph wieder zu ihnen zurückkehrte.
Doch dieses Mal war meine Mutter Zeugin. Mit kalter Wut ging sie hinüber zu den Berlinern, zog unserem sich sträubenden Feind die Jacke aus und wischte mit ihr sorgfältig die Leiter sauber. Flennend und mit seiner Mutter drohend, zog der solcherart Gedemütigte davon. Sein Heulen vermischt sich seitdem in meiner Erinnerung mit dem Gelächter aus dem Obergeschoss der Wuischker Mühle. Auf diesem Spielplatz wurde etwas geheilt.
Natürlich war für mich klar, dass ich irgendwann mal nach Berlin ziehen musste. Eine andere Stadt mit anderen Bewohnern kam gar nicht in Frage. Unterdessen sind es zwölf Jahre geworden. Cottbus stand am Ende der Saison in der Tabelle vor Union und tut es auch heute wieder. In den Baumscheiben meines Viertels gärtnern aus der Provinz Zugezogene wie ich es bin mit ihren Stadt-Kindern und Wehmut im Herzen zwischen der Hundescheiße herum. Hinterhofgärten und Bioläden an jeder Ecke. Der zentrale Ort der Stadt ist seit über einem Jahr ein Stück Wiese. A-Berlin verwandelt sich zusehends in etwas, das mir von Tag zu Tag lächerlicher erscheint: in die Hauptstadt der Bauern. So habe ich das nicht gewollt. Ich hatte meinen Triumph doch schon damals auf dem Abenteuerspielplatz. Ihr tut mir leid – ich höre euch auch kaum noch auf den Straßen des Zentrums sprechen. Und wenn wir doch noch einen von euch bei der Ausübung seines Humorverständnisses erleben können, ist uns das abends bei der Auswertung der Erlebnisse des Tages am Küchentisch eine gerührte Schilderung wert. Ihr könnt eure Stadt jetzt gerne zurück haben. Ich will wieder auf mein Dorf zurück, wo ich die Jahreszeiten spüren kann. Ich kann Berlin als Stadt ernst nehmen. Als Ersatzdorf nicht.
Frieden, ja?